Der Gabelstapler
Nur noch zwei Türchen bis Heiligabend. Vor Aufregung konnte Christian in seinem nagelneuen Schlafanzug nicht schlafen. Übermorgen gab es Geschenke! Dieses Jahr hatte er sich zu Weihnachten einen Gabelstapler gewünscht. Einen echten, großen, zum Reinsetzen und Herumfahren. Chris fand es faszinierend, wie damit in einem großen Lager die Paletten bewegt wurden. Hin und her flitzten die Maschinen und bewegten Berge von Paketen und Päckchen. Von seinen Eltern oder Großeltern würde er sehr wahrscheinlich wieder nur Spielzeug geschenkt bekommen. Deshalb hatte er dieses Mal an den Weihnachtsmann geschrieben und hoffte, dass sein Wunsch bald in Erfüllung ginge. Unruhig wälzte er sich hin und her.
Wenn Chris schlafen sollte, aber noch nicht müde war, machte Mama ihm oft einen heißen Kakao, der ihm meistens half. Der wäre jetzt bestimmt genau das Richtige. Leider schliefen alle schon, es musste also wirklich schon mitten in der Nacht sein. Im Schrank fand Christian keins der Trinkpäckchen, die er manchmal in die Schule mitnehmen durfte. Also musste er versuchen, selbst einen Kakao zu machen. Er hatte ja immer zugesehen, wie Mama das machte und gut aufgepasst.
Als er den Kühlschrank öffnete, um die Milch herauszuholen, hörte Chris ein helles Klingeln wie von vielen Glocken. Er sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam: draußen vor dem Küchenfenster. Dort schwebte ein hell erleuchteter, über und über mit Glöckchen behangener Schlitten, vor den Rentiere mit roten Nasen gespannt waren. Auf dem Kutschbock saß ein Mann in rotem Mantel mit weißen Aufschlägen und schwarzem Gürtel.
Vor Schreck blieb Chris der Mund offen stehen und er ließ die Milchtüte fallen, deren Inhalt sich sofort auf den Fliesenboden ergoss. Charly, der von allen heiß geliebte Dackel, kam herbeigetapst und schlabberte alles auf. Das war gut, so würde Mama nicht schimpfen wegen der Milch. Sie mochte es nicht, wenn der Fußboden schmutzig war und alles klebte.
Draußen an der Scheibe klopfte es. Der Mann im Schlitten bedeutete Christian, das Fenster zu öffnen. »Ich brauche deine Hilfe«, klang es dumpf durch das Glas.
Ungläubig bewegte Chris den Fenstergriff und entriegelte ihn.
Vorsichtshalber durch das nur einen Spalt breit geöffnete Fenster fragte er: »Bist du der Weihnachtsmann?«
»Ja, Christian, der bin ich.«
»Musst du nicht ›Ho, ho, ho‹ oder so etwas sagen?«
Er lachte. Es klang aber ganz normal.
»Und woher weißt du meinen Namen?«
»Ich weiß von allen Kindern die Namen und Adressen. Zumindest von allen, die noch an mich glauben und mir ihre Wünsche schreiben. Woher sollte ich sonst wissen, wohin ich die Geschenke liefern muss?«
Das leuchtete Christian natürlich ein. Er hatte ja selbst seine Adresse als Absender auf den Brief geschrieben, nur hätte er eher damit gerechnet, dass der Briefträger ihn verärgert bei ihm zu Hause in den Briefkasten werfen würde, anstatt ihn wirklich dem Weihnachtsmann zu bringen.
»Einer meiner Mitarbeiter ist krank, der mir sonst immer hilft. Ohne Ersatz schaffe ich es nicht, allen Kindern ihre Geschenke zu bringen. Möchtest du mir helfen?«
Mama und Papa hatten verboten, in fremde Autos zu steigen, aber von Schlitten war nie die Rede. Und so richtig fremd war der Weihnachtsmann ja auch nicht, immerhin brachte er jedes Jahr die Geschenke. Er war nur etwas früher da als erwartet. Also stieg Chris auf den Hocker, mit dem Mama wahlweise die Keksdose oder die Backzutaten ganz oben im Schrank herunterholte, nahm die ausgestreckte Hand und kletterte durchs Fenster nach draußen in den Schlitten.
»Tschüss, Charly«, murmelte er noch. Der Hund war zu alt, für ihn wäre die Reise zu beschwerlich.
Der Weihnachtsmann wohnt bekanntlich am Nordpol, was ganz schön weit weg war von zu Hause, aber trotzdem waren sie im Nullkommanix dort. Das musste mit den Rentieren zu tun haben, denn die wirbelten einen nach Vanille und Zimt duftenden gelben Glitzerstaub auf, als sie losliefen, und schon im nächsten Moment legten der Schlitten eine Vollbremsung hin.
Von oben hatte Chris geglaubt, mitten im Schnee ein ganz normales Iglu zu sehen, doch sie befanden sich jetzt in einem Tunnel, der schon groß genug für mehrere Schlitten gewesen wäre und den Zufahrtsweg zu einer riesigen kuppelartigen Lagerhalle bot. Regale türmten sich bis unter die Decke, daneben stand ein echter, großer gelber Gabelstapler. Doch dieser bewegte sich nicht. Auch die Hubwagen, mit denen sonst einzelne Paletten in verschiedene Bereiche der Halle bewegt wurden, standen nutzlos herum. Zwischen all den Türmen und Geräten packten geschäftige Wesen Geschenke ein, verzierten sie und legten sie in Kisten, die sich rund um Tische stapelten. Auf einem Fließband, das sich einmal rundherum und kreuz und quer, hoch und tief durch die Halle schlängelte, wurden rot-weiße Zuckerstangen transportiert, soweit Christians Augen reichten.
»Wow!«, entfuhr es ihm bei diesem Anblick.
Der Weihnachtsmann war seinem Blick gefolgt. »Na ja, ich habe einen Deal mit dem Zahnarztverband«, sagte er entschuldigend. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
»Ich weiß nicht.« Das kam immer ein wenig auf das Geheimnis an.
Der Weihnachtsmann zog seinen Mantel aus und war plötzlich ganz schlank. Die schweren Stiefel waren verschwunden und auch der weiße Bart, stattdessen trug er Riemchensandalen zu einem bunten Kleid und blonde Korkenzieherlocken fielen ihm beziehungsweise ihr über die Schultern. Denn er war eine sie.
»Nenn mich Irene. Der dicke Mantel ist nur fürs Geschäftliche ganz hilfreich.«
»Wie kann ich dir denn helfen, Irene?«, fragte Chris also die Weihnachtsfrau.
»Vielleicht ist es dir schon aufgefallen, Christian: Uns fehlt ein Fahrer für den Gabelstapler. Deshalb gibt es auch gleich keinen Geschenke-Nachschub mehr. Da du dir einen Gabelstapler gewünscht hast, dachte ich, du würdest das gerne übernehmen und ihn fahren.«
»Was, ich? Aber ich habe doch gar keinen Führerschein!«
Hinter sich hörte er ein Kichern, gefolgt von einer hohen Stimme, die sagte: »Das haben wir gleich.« Dann war er plötzlich in eine nach Erdbeeren duftenden rosafarbene Wolke eingehüllt und hätte auf der Stelle das Stapeln von Gabeln mit dem Gabelstapler unterrichten können. Und plötzlich wusste er auch Bescheid, wie er die Maschine bedienen und damit die Pakete aus den Hochregalen holen konnte. Weihnachtselfen hatten mächtige Zauberkräfte!
Kaum war er ins Führerhaus und auf den Sitz geklettert verbog sich das Metall und passte sich alles um ihn herum wie von Zauberhand an seine kindliche Körpergröße an.
Was war das für eine Freude, die vielen Geschenke zu den Wichteln zu transportieren! Auf jedem der Pakete und Päckchen war ein lachendes Gesicht und ihm blieb gar keine Zeit, darüber nachzudenken, was wohl alles darin sein könnte oder wo sie alle herkamen. Wichtig war nur, dass die Wichtel an den Packtischen sie bekamen, um sie hübsch einzupacken.
Die Arbeit ging schnell voran und er hatte gar nicht bemerkt, dass sein Magen knurrte, da tippte ihm Irene auch schon auf die Schulter und hielt einen Teller voller Kekse und einen Becher dampfenden Kakao hin.
»Magst du?«
Anstatt einer Antwort griff er beherzt zu und mampfend und krümelnd rief er: »Lecker!«
Sie erklärte ihm, dass sie von der Milch, die ihr die Kinder alljährlich zusammen mit mehr oder minder alten Keksen hinstellten, Durchfall bekam, und irgendwas vom Weizen. Er blickte wohl etwas verständnislos drein, jedenfalls machte es erneut ›Poff!‹ und er musste abermals eine Erdbeerwolke wegwedeln.
»Susi! Hör auf, den Christian schlauzuzaubern. Der ist noch ein Kind und langweilt sich dann bald in der Schule. Lass ihn auf natürliche Weise lernen. Das macht doch am meisten Spaß.«
Wie gern er noch mehr Zauber erlebt hätte! Doch längst war Susi davongeschwirrt und es gab noch so viel zu tun für alle im Geschenkezentrum.
Christian setzte sich nach der Pause noch einmal in den Gabelstapler und bewegte voller Freude die Pakete. Er fuhr vorwärts und rückwärts, hob die Gabel, nahm Paletten auf, kippte und senkte die Gabel und setzte sie ab, wo die Päckchen von emsigen Wichteln mit den Ameisen, wie die Hubwagen hießen, abgeholt wurden.
Viel zu schnell ging diese aufregende Nacht vorbei. Als die Regale leer waren, hieß es Abschied nehmen und Irene brachte ihn mit dem fliegenden Rentierschlitten rechtzeitig nach Hause, bevor seine Familie aufwachte.
Als seine Mutter ihn am nächsten Abend fragte, ob er für den Weihnachtsmann einen Teller Kekse und ein Glas Milch aufs Fensterbrett stellen wolle, verneinte er und erklärte: »Der Weihnachtsmann ist laktoseintolerant und verträgt kein Gluten. Deshalb lässt sie das immer stehen.«
Ich wünsche euch frohe Weihnachten!
Euer Ingo S. Anders
Mein Blog. Folgt mir auch auf Instagram!
Gebt meiner Facebook-Seite ein Like!