Für immer
Ich wollte dich verstehen, in das Innerste deiner Seele vordringen. Du bist meistens still, nimmst so vieles einfach hin. Da ist kaum Gegenwehr. Selten kommst du aus dir heraus, gibst nicht preis, was dich bewegt. Ich wollte dich weinen sehen, deine Tränen als Beweis, dass Leben in dir ist. Was geht jetzt in dir vor? Ich weiß doch, dass auch du Gefühle hast.
Wieder sagst du nichts. Du liegst einfach da in dem dunklen Wasser und regst dich nicht. Die leichenblasse Seerose neben deinem zarten Ohrläppchen ergibt einen wunderschönen Kontrast zu deinen langen dunklen Haaren. Dein bezaubernder Mund, deine Lippen sind eisblau in deinem schneeweißen Gesicht. Auf deiner Wange liegt ein frisches grünes Blatt, gefallen von einer Trauerweide. Du bist so wunderschön. Du bist weiß, schneeweiß. Deine Augen hast du angstvoll aufgerissen, den Mund zu einem Schrei geöffnet. Mensch, sag was! Was ist los mit dir? Warum hast du Angst? Doch nicht vor mir?
Die Wellen schlagen an deinen Busen. Du bist schon ganz steif. Deine Haare hast du sonst immer so ordentlich gemacht; jetzt sind sie wild zerzaust und nass. Du riechst so anders und deine warme weiche Haut ist so kalt, ganz eiskalt. Du bist so steif, so leblos. Oh mein Gott, was habe ich getan?! Ich wollte dir doch nur helfen! Ich habe versucht, dich zu verstehen. Warum wolltest du weg von mir? Was habe ich dir getan? Erkläre es mir, bitte!
Nein, ich lasse dich nicht gehen. Der Tod ist nicht das Ende. Du bist mein wertvollster Besitz, nein, du, meine Schöne, du bist alles, was ich habe. Ich sorge dafür, dass du es gut hast. Deine Haare werde ich bürsten und mich darum kümmern, dass du bequem liegst. Ich trockne dich ab und wärme dich, damit du nicht frierst. Es tut mir so leid, bitte verzeih mir, Liebes. Ich wollte dir nicht wehtun, ehrlich nicht! Ich hole Lippenstift und male deinen Mund wieder kirschrot, so wie er immer war. Deine Schönheit muss bewahrt werden, ich balsamiere dich ein. Das willst du doch auch? Ja, sag es, sag, dass du es willst. Du wirst für immer bei mir bleiben.
Für immer bei mir sein. Das war unser Traum: In Liebe verbunden für die Ewigkeit. In allen Einzelheiten hatten wir uns ausgemalt, wie es mit uns werden würde. Gemeinsame Kinder wollten wir und ein Haus, mit einem großen Garten, in dem unsere Kleinen spielen können. Mit einer Schaukel und einem kleinen See mit Rosen darin. Ein bisschen Schilf am Ufer, damit wir vor fremden Blicken geschützt sind, so wie hier.
Dich hat doch niemand gehört, vorhin? Nein, ich glaube nicht. Keiner hat bemerkt, wie ich dir die Bluse aufriss und den Rock hochschob.
»Aber …«, protestiertest du schwach und deine Stimme erstickte, als ich dir den Finger auf die Lippen legte. Ich zog dich ganz eng an mich, spürte deinen Körper dicht an meinem. Sanft strich ich dir über die Wange, roch den wundervollen Duft deiner Haare. Wollte dich küssen, doch du wandtest dich ab, versuchtest, dich aus meiner Umarmung herauszuwinden.
Was hast du denn gegen mich?
Ich hole dich aus dem Wasser, damit du dich nicht erkältest. Du bist schwerer, als du aussiehst; ich kann dich kaum hochheben. Wir müssen warten, bis es dunkel wird. Ich möchte nicht, dass uns jemand sieht. In deinem Zustand. Schau, die Sonne geht schon unter. Es dauert nicht mehr lange. Wann hatten wir das letzte Mal so viel Zeit füreinander?
Reden wollten wir, darum waren wir hierhergekommen. Ins Grüne, an die frische Luft. Die meiste Zeit hast du schweigend auf einem Stein gesessen, schienst in Gedanken versunken. Den Blick auf den Teich gerichtet, verfolgtest du das Spiel der Moderlieschen und Wasserspinnen. Der eine Satz, den du schließlich stockend über die Lippen gebracht hast, kann nicht dein Ernst gewesen sein. Das darf einfach nicht wahr sein!
Wir waren ungestört, als ich ganz nahe bei dir war und meine Hände um deinen Hals legte. Ich konnte deine Schlagader pochen spüren und sah dir in die Augen, suchte nach einer Erklärung. Dieser mitleidige Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
Deine Atmung geht schneller, dein Puls fängt an zu rasen. Wie ich zudrücke, immer fester. Warum weinst du nicht? Verdammt noch mal, jetzt heul endlich! Auf einmal schlägst du wie verrückt um dich, ringst nach Luft. Versuchst wütend, mich von dir wegzustoßen. Nein, diesmal nicht. Mein Griff bleibt eisern, minutenlang. Nein, ich lasse dich nicht gehen. Das kann ich nicht zulassen! Noch ein letztes Röcheln, dann fällt dein Kopf nach hinten und deine Glieder werden schlaff.
Da habe ich dich losgelassen und du sacktest in dich zusammen, fielst ins Wasser. Ich sprang hinterher, packte dich an den Schultern und schüttelte dich, wollte dich wieder aufwecken. Keine Reaktion. Ich brüllte dich an, doch du gabst keine Antwort. Hart schlug ich dich ins Gesicht, doch es half alles nichts. Du bliebst stur.
Du fragst noch, warum ich nicht anders konnte? Du hast alles zerstört. Du hast gesagt, du liebst mich nicht mehr.
Entstanden 2006 nach einem erlittenen Raubüberfall mit Morddrohungen und anschließendem Stalking. Ich versuchte, zu begreifen, was in Köpfen von Tätern vorgehen mag, die sogenannte Beziehungstaten verüben. Dieser Text ist in meinem Debüt Tobaksplitter enthalten.
Vorgelesen habe ich sie Halloween 2021 bei der Virtuellen Lesung der Brennenden Buchstaben. Hier geht es zur Aufzeichnung mit ein bisschen Vorgeplänkel: Zu Youtube.
Euer Ingo S. Anders
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Andre Marto
Sehr mutig aus dieser Perspektive zu schreiben – zum einen, da Du ja selbst betroffen warst lieber Ingo und dann auch noch dich in den Täter reinversetzen – verdient vollen #respect
Ingo S. Anders
Danke, lieber Andre. Das ist schon Jahre her. Der Text ist von 2006.