Leben im Meer
Tag für Tag gehe ich die Straße entlang. Baustellenlärm umhüllt mich. Ich sehe den tristen Backsteinhäusern dabei zu, wie sie die Segel setzen und sich stetig weiter in Schwindel erregende Höhen hinauf schrauben. Stets sind die Menschen bestrebt darum, den höchsten Punkt der Stadt für ihre Beobachtungszwecke zu nutzen. Es ist ein Privileg, die sich aneinander brechenden Wellen aus Stein und Stahl, die wild spritzende Gischt von Menschen und Autos sowie die ewig grollende Geräuschkulisse der lebendigen Stadt aus sicherer Entfernung zu betrachten. Über immense Höhen durch unzählige Stockwerke gefiltert, ist kaum noch etwas von den Ausmaßen der aufeinanderprallenden Ungetüme zu hören, die hier im endlosen Meer der Großstadt ihren jahrhundertealten Zwist miteinander austragen.
Ich war noch nie dort oben in den Wolken, von wo aus dieses staubaufwirbelnde Wirrwarr lediglich zu beobachten ist. Ich bin hier unten, eigentlich schon immer. Dennoch bin ich nicht traurig darum, da mich die tosenden Gewalten selten noch mit Angst und Schrecken erfüllen. Sie wüten in blinder Raserei die Straßen entlang und doch bin ich froh, sie mit ihren eigenen Konflikten beschäftigt zu sehen. Denn wenn ich auf meinem Heimweg den ewigen Kampf beobachte, der so vollkommen in sich verstrickt, nicht ein einziges Mal zu mir aufsieht und mich schlicht nicht bemerkt, erinnere ich mich des Öfteren an andere Zeiten.
Damals war ich noch ein junges Mädchen, unfähig, die Gewaltigkeit um mich herum zu begreifen, unmündig, gehetzt, nach Sicherheit und Frieden lechzend. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie noch vor mir: laut miteinander zankend, in solch ungeheuerlicher Wut ineinander verbissen und gekrallt, durch die Straßen tobend, ohne ein Ende zu sehen, ohne sich loszulassen, ohne zu vergeben.
Hass floss durch die Stadt, vergiftete Gischt und Herzen, nistete sich ein, erfüllte die Luft, kontaminierte selbst den letzten Aufrechten mit schaurig fauligem Atem. Nichts und niemand konnte fliehen. Wie durch Marionettenfäden geführt, entwickelte sich ein grausiges Schauspiel, das die Meereswasser mit dem Anblick der Zerstörung und des Todes färbte.
Die Tränen, die ich und die anderen Verlorenen in die brüllenden Strudel weinten, wurden sofort blutrot, unfähig, der bereits verdorbenen Flüssigkeit Mitgefühl beizumischen.
Heute begebe ich mich gerne auf die belebten Straßen. Nach einem langen Tag genieße ich es, nachhause zu spazieren, hier und da stehen zu bleiben und mein rotes Kopftuch zurechtzurücken, das ich zu meinem Schutz trage. Sollten sich einmal die Wassermassen schlagartig ändern und mich mitreißen, werden mich die Gaffer dieses Mal nicht von oben erkennen. Die grollende Welle wird mich mitnehmen, mich entweder ertränken, oder mich leben lassen. Habe ich doch zu lange Zeit auf Hilfe von oben gehofft, mich nach starken Händen gesehnt, die sich mir, durch die Wasseroberfläche drängend, geöffnet darboten. Ich wünschte, sie als rettenden Anker zu ergreifen und mich zu ihnen herauf zuziehen, in das abgeschottete Nichts der Höhe, die unberührt und trocken keinerlei Gefahren barg.
Schmerzlich sticht mich die Erinnerung an weit aufgerissene Augen, zusammengepresste Münder, die ihre Hände fest hinter dem Rücken verschränkt, dort oben verweilten, und keine Anstalten machten, ihr Exil zum Teilen anzubieten. Wie sehr beweinte ich mein dunkles, langes Haar, das sich klar abzeichnete, sich, wild um meine Ohren peitschend, in den speienden Fluten kräuselte. Schmerz, Enttäuschung und Angst bündelten sich in der niederschmetternden Erkenntnis, dass ich mein Elend ertragen musste, alleine, ohne Hilfe, wie ein Ausstellungsstück im Museum. Hinter dickem Glas, um die wütenden Gewässer nicht zu den Zuschauern hindurchzulassen, beobachteten sie meinen Überlebenskampf. Gerührt, manche von ihnen indifferent, andere gelangweilt, alle jedoch untätig verharrend ob der Möglichkeit, die Geschichte zu ändern. Das passive Kollektiv hatte mir den Lebensfunken genommen, einfach so, gestohlen und als wertlos ausrangiert. Diese schweigende Gemeinschaft, der Grund, weshalb das Wasser erst in derart unwirtliche Höhen ausschlagen konnte, ließ die Hoffnungslosigkeit Einzug halten und schmerzte mich in dieser ohnehin dunklen Zeit auf grausamste, unmenschliche Weise.
Heute trage ich es, das rote Kopftuch. Das mich unsichtbar macht, mich ohne wallendes Haar durch die blutigen Ströme irren, mich ungesehen und unbemerkt verschwinden lässt, ohne Aussicht auf Rettung. Ohne Hoffnung, die, einst bitter enttäuscht, den sicheren Tod für mich bedeutete, ließe ich sie ein zweites Mal aufglimmen. An der Wurzel reiße ich die Zuversicht in jene dort oben jeden Tag erneut aus der Erde, bis ich sicher bin, dass kein Körnchen mehr ein Nachwachsen bedingen, dass es auf immer fort ist und nie wiederkehren kann. Mein Kopftuch fest auf dem Haupt, blutrot und scheußlich, lässt mich ohne Angst vor dem, was noch kommen kann, die friedlichen Tage genießen.
Ich wende mich nach links und betrete den schmalen gepflasterten Weg, aus dessen Ritzen grün lebendige Pflanzen hervorschauen. Ich lächle und schüttele meine Gedanken an die Vergangenheit ab. Erleichtert sauge ich klare Luft ein, die von den Bäumen in meinem Garten gefiltert und fein durch meine Lungen fährt wie die leibhaftige Erlösung. Die Haustür ist klein und unscheinbar, doch sie verbirgt eine Oase der Ruhe und Harmonie.
Ich öffne die Tür und entgegen schwappen mir zwei Enkelkinder, die schon zappelig darauf gewartet haben, mich endlich wieder in ihre Arme schließen zu können. Meine Tochter und ihr Mann bereiten, sich verliebt neckend, in der Küche das Abendessen zu.
Mein Mann sitzt in seinem Schatten vor dem Kamin und blickt ins Feuer, das das kühle Nass für diesen Moment noch von ihm fernhält. Auch wenn er es möchte, kann er zunehmend weniger die Haustür hinter sich schließen. Ich bin dankbar dafür, dass ich das noch kann. Von ganzem Herzen lachend begrüße ich ihn mit einem Kuss auf die Stirn und folge den Kindern, den für sie unsichtbaren Schatten noch einmal abschüttelnd, um ihre neu gebaute Höhle ehrfürchtig zu bestaunen. Das Abendessen schmeckt köstlich, gerade so, als seien alle Zutaten aus dem süßesten Zucker. Hier möchte ich sein. Zuhause.
Oftmals bemerke ich die gewaltigen Wogen an unseren Fensterläden vorbeiziehen, spüre die Blicke aus unbedrohter Höhe auf mir und erkenne die Angst fadenscheinig anklopfen, heuchlerisch lächelnd, wohl wissend, dass ich gegen ihr Eintreten machtlos bin. Dann versuche ich mich abzulenken, mich mit den Kindern in einem Buch zu verlieren oder mich mit meiner Tochter in einem langen Gespräch zu amüsieren.
Bin ich jedoch ganz allein und nähere mich dem Sessel vor dem Feuer, der bald schon nur noch eine dunkle, leere Hülle beherbergt, dann erinnere ich mich an mein Kopftuch, das an einem Haken neben der Haustür aufgehängt, hier drinnen zuweilen einem nutzlosen Gegenstand glich, der mit wachsender Hoffnung an Wert verlor… und dann bin ich sicher, dass ich den einen Schatz besitze, der mich aus den Tiefen des Meeres nach dort droben hinauflächeln lässt.