Voidcall: Das Rufen der Tiefe – Kapitel 7 – Der Gigantyras
»Verdammt, es ist mitten in der Nacht. Du bist dir schon im Klaren darüber, was hier nach Einbruch der Dämmerung unterwegs ist, oder?«, fluchte Daisy lautstark.
Für Clynnt Volker war diese Diskussion verschwendete Zeit. Zeit, die sie brauchen würden, um Archweyll, Tamara und die anderen zu finden.
»Was auch immer hier passiert ist, wir haben weder Funkkontakt, noch sind ihre elektronischen Signale auf unseren Scans. Archweyll hat sich mal wieder bravurösen Ärger eingehandelt und ich will verdammt sein, wenn ich es nicht schaffen sollte, ihn aus der Scheiße zu ziehen«, erwiderte der Chefnavigator mit einem funkelnden Blick aus seinen eisenharten Augen.
»Alte Männer, die gerne sterben wollen. Macht das, aber haltet mich da raus!«, zischte Daisy wütend.
Für eine Sekunde überlegte Clynnt ernsthaft, ob er sie einfach erschießen sollte. So ein ausgeprägter Egoismus hatte in seinen Reihen keinen Platz und selbst wenn Daisy den Zyklopen steuerte, hatte Archweyll ihm das Kommando übertragen. Es war eine blamable Schande, dass Daisy austreten wollte, jetzt wo es erst einmal brenzlig wurde.
»Du bist in der Armee, Mäuschen. Auf Nautilon, einen Kilometer unter der Meeresoberfläche. Und nicht auf Prospecteus, in deinem warmen Bett. Das lernst du besser schnell. Weil du so ein blutiger Anfänger bist, will ich dir deinen Ausrutscher verzeihen, aber wenn du nicht augenblicklich tust, was ich dir sage, werde ich deinen süßen Arsch aus der Kommandobrücke befördern. Und ich warne dich nur einmal vor, meine Füße sind wirklich groß und ich habe eine Vorliebe für feste Stiefel.«
Die Chefmechanikerin schien drauf und dran auf ihn loszugehen. Ihr Kopf lief vor Wut hochrot an und sie machte einen festen Schritt in seine Richtung. »Wie hast du mich genannt? Wenn du gerne selber steuern möchtest, nur zu. Steuer den Kahn und deine Crew in den sicheren Tod. Aber setzt mich vorher da oben ab und verschone mich mit dem geistigen Brei eines dementen Tattergreises.«
Die Ohrfeige traf sie so unerwartet, dass sie zusammenfuhr.
Clynnt Volker hatte noch nie eine Frau geschlagen. Gut, er hatte schon ein paar erschossen, aber Piraten und Mutanten zählten normalerweise nicht zu der vornehmen Gesellschaft.
Daisy scheinbar auch nicht. Der Chefnavigator merkte, wie er vor Wut am ganzen Körper zitterte. So ein unglaubliches Verhalten hatte er noch nie erlebt. Diese Bereitwilligkeit, andere einfach sterben zu lassen, um seinen Arsch ins bequeme Trockene zu hieven, empfand er als verachtenswert.
Die Chefmechanikerin schaute ihn entgeistert an und rieb sich das rot angelaufene Ohr. Für einen Moment schien es, als wolle sie ein Messer ziehen, um Clynnt die Kehle durchzutrennen, doch dann machte sie Kehrt und verschwand von der Brücke.
In der Kommandozentrale trat ein betretenes Schweigen ein.
»Sie übernehmen«, wies der Navigator den Copiloten an.
Mit einem zögerlichen Nicken nahm dieser Platz und verlinkte sich mit der Steuerung.
»Das Radar soll nun manuell arbeiten. Sucht nach Herzfrequenzen. Ich weiß, dass es mühselig ist, aber wir haben keine Wahl. Wir tauchen ab.«
***
N’Kahlu stieß einen energischen Fluch aus.
Die Energiequelle der Scherenpanzer zu manipulieren war eine fast wahnwitzige Sabotage.
Zweifelsohne würde der Kommandant den Verantwortlichen in Stücke reißen, wenn sie denn überleben sollten. Glücklicherweise hatte der Sog ihn nicht so stark erwischt und es hatte ihn nicht über den Rand des Abgrunds getrieben. Während er auf dem pechschwarzen Dünensand verharrte, bemerkte er, dass weitere Krebsanzüge neben ihm auf Grund liefen. Hastig zählte er durch.
Zehn Stück, also hatten zwei von uns weniger Glück.
Ein Knurren entwich seiner Kehle. Hoffentlich wussten seine neuen Vorgesetzten, was zu tun war. In einer solchen Situation war es wichtig, die Fassung zu bewahren. Spätestens, wenn sie in die Tiefen hinabsteigen würden, um die Vermissten zu bergen. Plötzlich bewegte sich einer der Scherenpanzer.
Hat es ihn nicht erwischt?
Zielsicher steuerte das Gerät auf ihn zu und N‘kahlu erkannte Phillista, einen seiner besten Männer, hinter dem Steuer.
»Verdammt sollst du sein, du alter Teufelskerl«, feixte der Sergeant.
Mit Fingersprache stimmten sie sich ab. Worte waren überflüssig, da scheinbar unschwer zu erkennen war, was das Problem darstellte.
Mit einem routinierten Handgriff machte sich der Soldat an N‘kahlus Anzug zu schaffen, während unterschiedliche Werkzeuge durch seine Greifer rotierten. Wenige Minuten später war die Energieversorgung wiederhergestellt.
Ein Unterbrecher-Chip also? Kein schlechter Schachzug. Aber kein Hindernis, für ein Expertenteam.
Und Experten waren seine Männer wahrlich. Auf Orian II hatten sie den Tod mit sich gebracht, wohin sie auch kamen. Niemand beherrschte die Scherenpanzer so gut wie seine Truppe.
Was dem Sergeant allerdings Kopfschmerzen bereitete, war die Tatsache, dass die Dämmerung mittlerweile der pechschwarzen Nacht gewichen war. Die Schatten waren länger geworden, bis sie den Meeresgrund völlig für sich einnahmen.
Eilig schloss sich N‘Kahlu seinem Kameraden an, um die Scherenpanzer aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Per Funk informierte sich der Sergeant, warum sein Soldat nicht von den Problemen betroffen war.
»Ich weiß es nicht, Sir«, erwiderte Phillista gelassen. »Möglicherweise hat der Saboteur gepfuscht oder wusste nicht haargenau, was zu tun war. Ich möchte es ihm nicht verübeln.«
Der Soldat wurde mit einem Lachen quittiert.
Dann tauchte ein Leuchten vor ihnen auf und der Zyklop näherte sich mit eiliger Geschwindigkeit.
»Wir sind in Ordnung«, berichtete N’kahlu angespannt. »Aber zwei von uns sind in die Tiefe gestürzt.«
Nach einem schnellen Durchzählen stellte sich heraus, dass es sich bei den Vermissten um Archweyll Dorne und Tamara Vex handelte.
»Verdammt, gerade die Anfänger werden es nicht einfach haben. Ich hoffe, sie finden einen Weg, um dort unten klarzukommen, bis wir eintreffen«, sagte der Sergeant angespannt.
»Wir werden uns sofort auf den Weg machen«, die Stimme des Chefnavigators knisterte durch den Funk.
N’Kahlu konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, jetzt wo der Nervenkitzel einsetzte. »Aye, fahrt die Halterungen aus. Wir springen auf. Schließlich wissen wir ja nicht, auf was wir alles stoßen könnten.«
***
Clynnts Lippen entwich ein Seufzer der Erleichterung, als die Einheiten sich meldeten. Zumindest mussten sie nicht alle Crewmitglieder in den Tiefen wiederfinden. Doch die Tatsache, dass Tamara und Archweyll noch dort unten waren, bereitete ihm Unbehagen. Nervös ging er auf der Brücke auf und ab. Das lief alles nicht nach Plan.
Die Chefmechanikerin hatte sich als herber Rückschlag erwiesen und der Copilot war fast so angespannt wie er selbst. Und vor ihnen ging es sieben Kilometer in die düstere Tiefe eines ihm unbekannten Planeten.
Ein Ruck zog sich durch das U-Boot, als die Scherenpanzer auf die ausgefahrenen Schienen sprangen. Dann sanken sie hinab.
»Scheinwerfer deaktivieren und Radarsysteme hochfahren«, befahl der Chefnavigator lautstark. Auf einen Schlagabtausch mit der hiesigen Tierwelt konnte er getrost verzichten.
Der Copilot führte seine Befehle aus und zunehmend wurde alles um sie herum von einem schwarzen Seidentuch verhüllt. Nur das Flimmern der Monitore erhellte die Brücke und tauchte sie in ein trübes Licht.
»Komm schon, Arch, lass dich endlich blicken«, flüsterte Clynnt gedankenversunken.
Vor seinem inneren Auge sah er den Kommandanten, wie er ihnen mit frivolem Grinsen entgegensprang, den kompletten Scherenpanzer zerlegt, und mit Tamara im Arm.
»Sir, wir haben ein Problem. Um ehrlich zu sein, es ist ein riesiges Problem!«, krächzte der Copilot plötzlich mit trockener Stimme und vergewisserte sich wieder und wieder, ob die Scans ihn nicht belogen. Sein Gesicht hatte die Farbe geronnener Milch angenommen und seine Hände zitterten spürbar, während er Befehle in die Konsole eintippte.
»Spukst schon aus. Ich hatte gerade das größte Problem beseitigt, es dürstet mich förmlich nach einem neuen«, knurrte Clynnt.
Als der Copilot nicht antwortete, fuhr er ihn an. »Na, was ist? Hat es dir die Sprache verschlag…?«, sein Blick wanderte über den Monitor und die tiefen Sorgenfurchen in seinem Gesicht mutierten zu Schluchten der Befürchtungen. »Sofort Alarmstufe rot ausrufen und die Torpedobatterien bereithalten. Ich informiere die Jungs da draußen, wir werden zügig fahren müssen. Außerdem möchte ich im Umkreis von einer Meile Leuchtkörper im Wasser haben, unsere Taktik, nur mit Radar zu manövrieren, ist ab jetzt Geschichte.« Er griff nach dem Funkgerät. »An alle Einheiten, wir kriegen Besuch. Bereitet euch darauf vor dem Tod ins Angesicht zu blicken.«
Er wurde von einem Brüllen unterbrochen, das direkt aus seinem Kopf zu stammen schien.
»Leuchtkörper online, Feuer frei!«, bestätigte der Copilot.
Zischend bahnten sich die Geschosse wie Sternschnuppen ihren Weg durch die Dunkelheit. Ihre Explosion war kaum vernehmbar, doch dann breitete sich ein sattes Licht aus, das den Ozean in ein Meer aus Gold verwandelte.
Gerade noch rechtzeitig, um den Blick auf einen riesigen Schemen freizugeben, der über den Zyklopen hinwegschwamm.
»Kategorie: Gigantyras. Länge: 357 Meter. Warnung, extrem aggressiv«, spukte die Sprachausgabe der Scanerkennung knisternd aus.
»Schalt das aus. Wenn es nochmal zu mir spricht, bringe ich es um!«, befahl der Chefnavigator energisch. »Und dann bring uns runter, wir müssen verschwinden!«
Dröhnend entfaltete die Maschine ihre volle Leistung und schob den stählernen Riesen vorwärts. Eingehend studierte der Chefnavigator den Scan. Was er sah, ließ ihn schlucken.
Der Gigantyras war ein längliches, sehr schlankes Wesen von der Gestalt einer Seeschlange, das sich, von seiner riesigen Schwanzflosse angetrieben, elegant durch das Wasser wandte. Auf seinem Rücken befand sich ein durchgehender, stromlinienförmiger Zackenkamm, der von der Schwanzflosse bis zum Kopf reichte. Weitere Flossen, zu seinen Seiten, verliehen ihm den benötigten Auftrieb. Aber das wirklich furchteinflößende war der Kopf. Fünf Paar kohlrabenschwarzer Augen musterten sie angriffslustig und ein riesiges Maul, voller Reihen spitzer Zähne, öffnete und schloss sich im Gleichtakt. Das Wesen besaß bebende Nüstern, die in einer kaum ausgeprägten Schnauze mündeten. Auf seiner Stirn befand sich ein großes spitzes Horn und um den Schädel herum saßen vier spinnenbeinartige, klauenbesetzte Greifarme im Fleisch verankert, welche die Beute packen und in den Schlund des Monsters befördern konnten. Ihre Klauen wirkten wie die das lange Blatt einer Sense, schreckliche Werkzeuge des Todes. Sie zuckten schon vor Mordlust und blutiger Vorfreude.
Dann brüllte das Tier dem Zyklopen eine Herausforderung entgegen und setzte ihm nach.
»Welche Torpedos können wir auf diese Distanz benutzen?«, fragte Clynnt Volker hektisch.
Die Anspannung nahm ihn gänzlich für sich ein, er spürte merklich seinen Puls rasen und die Innenseiten seiner Handflächen hatten sich in morastige Tümpel verwandelt.
»Die Vendetta-Klasse auf kurze Distanz und Tsunamibringer auf mittlere Distanz. Aber er holt auf, es wird schwierig genug sein, uns überhaupt in Schussposition zu bringen«, erklärte der Copilot mit zitternder Stimme. Es klang fast so, als würde er gerade aus einem Lehrbuch zitieren und nicht aus Erfahrung sprechen. Vielleicht war es doch verkehrt gewesen, Daisy von der Brücke zu jagen?
Clynnt knirschte mit den Zähnen Er durfte seine Entscheidungen jetzt nicht anzweifeln. »Haben wir also gerade nichts, was wir unserem Freund hier entgegensetzen können?«, fragte er gereizt. Wie konnte es überhaupt sein, dass es am Heck keine Torpedobatterie gab? Hatte niemand aus den schlechten Filmen gelernt?
»Ich … Ich weiß es nicht genau. Das ist mein erster Einsatz, Sir«, stammelte ihm der Copilot entgegen.
Erst jetzt wurde Clynnt bewusst, dass er nur ein Junge war. »Welcher Idiot schickt mir denn einen Frischling an das Steuer eines riesigen U-Bootes, der sich noch nicht einmal darüber im Klaren ist, über welche Waffensysteme es verfügt?«
»Nunja, ich denke, das waren Sie, Sir«, erwiderte der Junge trocken.
Clynnt konnte nicht anders, als zu lachen. »Na, wenn du es sagst, werden wir wohl beide als Idioten sterben«, kicherte er, dann sank er auf einem Sessel zusammen und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Heute stirbt mir hier keiner!«, drängte plötzlich eine Stimme zu ihnen durch. »Weder wir, noch die Leute, die wir suchen und finden werden!« Daisy Schritt in die Kommandobrücke, ihre Ausstrahlung hatte sich gänzlich verändert. Von dem trotzigen Mädchen war kaum noch ein Funke übrig. Es war der puren Entschlossenheit gewichen.
Clynnt wollte etwas erwidern, doch sie winkte ab.
»Ich weiß, was du sagen willst, und du hast Recht. Eigentlich habe ich hier nichts zu suchen. Ich habe es mir zu leicht gemacht.« Sie schien kurz in sich zu gehen. »Geniale Dinge zu entwerfen ist die eine Sache. Explosionen, riesige Roboter und Induktionsgewehre können einen schon echt glauben lassen, man sei ein taffer Mensch. Das dachte ich zumindest. Angsthasen habe ich schon immer gehasst. Aber gerade, als mir bewusst geworden ist, wie gefährlich es wird, habe ich mir fast in die Hose gemacht.« Sie nickte in Richtung des Hecks, wo ein weiteres Brüllen ertönte. »Und irgendwie schien ich ja auch Recht zu haben. Aber das bedeutet nicht, dass ich einfach davonlaufen darf. Bereit, wenn du es bist.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Im Bruchteil einer Sekunde hatte Clynnt den Copiloten aus der Steuervorrichtung geworfen. Er ergriff ihre Hand.
»Bereit«, sagte er nüchtern. »Enttäusch mich nicht.«
Daisy lächelte und der Chefnavigator spürte wieder dieses lodernde Feuer in ihr.
Wie hat sie sich so schnell umentschieden?
Sie holte einmal tief Luft. »Dann wollen wir dieser Bestie mal zeigen, dass es dumm war, sich mit uns anzulegen.«