Gottes Hammer: Folkvang X
Esben trieb in völliger Finsternis. Er fühlte sich wie in einem warmen Meer, das ihn von allen Gedanken und Widrigkeiten der Realität befreite. Farblose Wellen umspülten seinen reglosen Körper.
Dann geschah es.
Mit einem Mal wurde die Schwärze zerrissen und er schlug die Augen auf. Verwirrt blickte Esben um sich. Die Orientierungslosigkeit umnebelte seinen Verstand wie wohlriechender Dampf. Aber schnell verdrängte der Geruch nach Schwefel seine Verwirrung.
Esben lag auf schwarzer Erde, der alte Foliant und sein Gerüst waren verschwunden. Rauchschwaden blockierten die Sicht auf seine Umwelt, aber Esben hörte Geschrei und Stöhnen. Er sah, wie schemenhafte Gestalten in wirren Bewegungen am Rand seines Sichtfelds vorbeirannten. Flüssiges Feuer brodelte in Gräben neben ihm.
Esben sank entkräftet zu Boden. Seine letzte Erinnerung war Elinors erschrockenes Gesicht, als er sie im Lager der Tempelsöhne verhörte. Jemand musste ihn hinterrücks angegriffen haben!
Es konnte nur Abigor gewesen sein. Esben wusste nicht, welches prekäres Geheimnis der Tempelsohn hütete, aber es musste Ashaya und Berith betreffen.
Esben atmete tief durch und ließ seinen Blick über die nahe Umgebung schweifen. Sein Hinterkopf schmerzte, als ob tausend Nadeln sich gleichzeitig in ihn bohrten. Seine Nemesis war nicht zimperlich gewesen.
Plötzlich erklang hinter ihm eine Stimme. „Gut geschlafen?“
Esben wirbelte herum und erblickte Velis‘ ausdrucksloses Gesicht. Die mädchenhafte Dämonin musterte ihn aus flackernden Augen, während sie ihre Hände vor der Brust verschränkt hielt. Esben entging nicht, dass sie noch immer das stachelige Halsband trug, das sie während ihres Aufeinandertreffens in Hornheim als Sklavenmacher bezeichnet hatte. Scheinbar war es Azrael nicht gelungen, sie von dem Fluch zu befreien.
„Wo bin ich hier?“, fragte Esben leise. Die Antwort lauerte in seinem Innersten hinter einer Fassade aus Selbstschutz.
„In der Hölle“, entgegnete Velis schlicht.
Esbens Hand fuhr zu seinem Hinterkopf. Ein entsetzlicher Verdacht nahm in seinem Kopf Gestalt an. „Bin ich etwa … gestorben?“
Kurz herrschte Schweigen und nur das Stöhnen der Schemen umschmeichelte die Stille. Dann brach Velis plötzlich in lautes Gelächter aus. Auf seltsame Weise beruhigte das Geräusch Esben. Es wirkte kindlich, nahezu unschuldig.
„Ich dachte, du glaubst nicht an uns?“, fragte sie neckisch.
„Ich glaube nicht an Azraels Göttlichkeit“, korrigierte Esben. „Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Hölle existiert.“
Velis neigte den Kopf. Nun wirkte sie wieder ernst. „Damit liegst du gar nicht so falsch. Azrael hat diesen Ort schließlich selbst erschaffen.“ Sie breitete die Arme aus, so als ob sie die gesamte Welt umfassen wollte. „Eine eigene Welt in einer Welt.“
Esben starrte sie erstaunt an. „Was? Azrael hat …“
Velis streckte ihm eine Hand entgegen. „Komm mit, dann verstehst du es vermutlich besser.“
Zögerlich ergriff Esben ihre wartenden Finger. Welche Möglichkeiten boten sich ihm schon? Er wusste nicht, wo er sich befand oder wie er diese furchteinflößende Welt verlassen konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach dem Szenario der Dämonen zu handeln.
Velis führte ihn zielsicher durch den Rauch. Esben hustete und schirmte Mund und Nase mit seinem Unterarm ab. Schmerzhaft wurde ihm das Fehlen des Folianten ins Bewusstsein gerufen. Die Magie des Buches hätte die dämonischen Blendwerke vernichten können. Ein Schauer der Angst ließ Esben erzittern. Er war nun kaum mehr als ein normaler Mensch. Seine mäßige magische Kraft konnte ihn hier nicht schützen.
Plötzlich tauchte aus den schwarzen Schwaden ein Mensch auf, am ganzen Körper geschunden und blutig, der mit lauten Schreien und wie ein Irrer gestikulierend über den felsigen Untergrund lief. Erstarrt folgten Esbens Blicke der grässlichen Gestalt, die wild zuckend an ihnen vorbeiraste und wieder im Schutz des dichten Rauchs verschwand. Die Schreie wurden immer leiser, bis sie schließlich erstarben.
„Was … was war das?“, fragte Esben heiser.
Velis seufzte. Melancholie lag in ihrer Stimme, als sie antwortete. „Ein Schemen, nichts weiter.“
„Das war doch … ein Mensch!“, stieß Esben zitternd hervor. „Was ist ihm zugestoßen?“
Velis ergriff seine Hand fester, während sie an einem besonders tiefen Graben vorbeigingen. „Was bringt dich zu der Annahme, diese Gestalt sei ein Mensch gewesen?“
Esben sah Velis an. Wollte sie ihn verhöhnen? Er räusperte sich. „Das war ja wohl kaum zu übersehen. Er hatte Arme und Beine, also muss er ein Mensch gewesen sein.“
Velis hielt an und erwiderte seinen Blick. Das blutrote Leuchten ihrer Augen wurde intensiver. „Was ist mit mir? Ich habe auch den Körper eines Menschen.“
Esben fluchte innerlich. Er wollte sich auf keine Diskussion einlassen!
„Das ist eine Frage der Gesinnung“, erwiderte er knapp und wollte weitergehen.
Velis hielt ihn zurück. „Ich habe es versucht.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Ich habe wirklich versucht, ein Mensch zu sein.“ Ihre großen Augen funkelten und die dünnen Finger ihrer verbliebenen Hand strichen über das dunkle Halsband.
Esben entwand sich ihr. „Jetzt tu nicht so scheinheilig!“, brüllte er. Die Panik schürte seine Wut. „Ihr seid Dämonen! Ihr holt Menschen hierher und FOLTERT sie!“
Velis‘ Augen blitzten erbost. „Warum denkst du das? Weil Sitraxa es so gemacht hat?“
„Willst du mich verarschen?“ Die Unsicherheit und die vielen Gefahren der letzten Tage machten sich bemerkbar. Ein Held wie Halgin hätte vermutlich selbst in dieser Situation Haltung bewahrt und Velis majestätisch Paroli geboten, aber der Strudel der Ereignisse hatte jegliche Heldenhaftigkeit aus Esben herausgezwungen. „Sieh dich doch um! Das hier ist doch Beweis genug!“ Der Priester vollführte wilde Gesten. „Und hast du vergessen, dass ich in Hornheim war? Dort ist alles voller Verliese und Kerker! Ein gottloser Ort!“
Velis erwiderte nichts. Stattdessen ergriff sie wortlos den Rand ihres Hemdes und zog es hoch, bis Esben ihren Bauch sehen konnte.
Der Priester erstarrte.
Brandnarben überzogen die ehemals weiche Haut, sodass sie wie ein zerklüftetes Felsenmeer wirkte. Esben erkannte einen eingeritzten Schriftzug in dem Zeugnis von Schmerz und Leid. Unhold, stand dort geschrieben.
Esben sank entkräftet zu Boden und mit einem Seufzen bedeckte Velis ihre Blöße erneut. Als sie zu sprechen begann, wirkte sie wesentlich älter.
„Mein Vater war ein grausamer Dämon“, erzählte sie und strich dabei über ihr Halsband. „Er hat Mägde aus Raureif geraubt und meine Mutter gezwungen, ihm … Vergnügen zu bereiten. So … bin ich entstanden. Unbeabsichtigt.“
Velis‘ Augen füllten sich mit den Erinnerungen vergangener Zeiten. Sie blickte in den Rauch, so als ob sich die Bilder dort neu bildeten. „Aber dennoch hat mein Vater niemandem je zum Spaß Schmerz zugefügt, auch wenn viele das behaupten. Er hat es getan, weil er es zum Leben brauchte. Seine Magie als Dämon hatte ihm ewiges Leben geschenkt, aber eben zu diesem Preis. Er verachtete sich selbst und in grausigen Anfällen von Hass geißelte er sich oft bis zur Bewusstlosigkeit. Seine gesamte Welt bestand nur aus Schmerz. Wie auch meine.“
Velis erschauderte. „Als ein mächtiger Inquisitor von Astaval in Hornheim eindrang und meinen Vater trotz seiner Unsterblichkeit tötete, wurde ich befreit. Aber ich kannte das Leben jenseits der vertrauten Mauern des Verlieses nicht. Ich kannte kein Leben, in dem man stundenlang keinen Schmerz verspürt. Also flehte ich die Knechte des Inquisitors an, mir Schmerz zuzufügen.“
Velis strich über ihren Bauch. Übelkeit überkam Esben, als er verstand, worauf sie hinauswollte.
„Ich trug davor schon einen Sklavenmacher, aber ich hatte nie Narben“, flüsterte Velis. „Dafür hat mein Vater gesorgt. Aber an jenem Tag bekam ich mehr als genug Narben und dazu noch einen Schmerz, der jenseits aller Vorstellungskraft stand.“ Velis stöhnte. „Glühendes Eisen. Die Knechte haben pausenlos gelacht und sich betrunken. Für sie war es ein Spiel. Sie betrachteten mich nicht als Lebewesen, sondern als … Ding, mit dem der Besitzer tun und lassen kann, was auch immer er will.“ Velis‘ lodernder Blick ruhte auf Esben. „Hast du schon einmal so etwas erlebt, Priester? Wenn Menschen außer Kontrolle sind?“
Esben dachte an den Lynchmord an seiner Schwester und nickte traurig. „Warum?“, flüsterte er. „Warum erzählst du mir das?“
Velis ging auf ihn zu und ließ sich vor ihm nieder. „Du liegst richtig“, sagte sie leise. „Wir Dämonen sind keine Menschen mehr. Sowohl im schlechten, als auch im guten Sinne.“ Sie erhob sich und deutete auf die Stelle, an der die geschundene Gestalt im Rauch verschwunden war. „Das war übrigens ein Hrandar von Berengar. Wir lassen sie einmal pro Tag durch die Gegend rennen, um den Verdammten Angst einzuflößen.“
In einem letzten verzweifelten Versuch begehrte Esben auf. „Was ist mit Sitraxa? Sie genoss es, Menschen Leid zuzufügen!“, rief er.
Velis erwiderte nichts. Stattdessen zog sie den gewaltigen Folianten hervor, so als ob sie ihn aus Luft bildete. „Beschwöre sie“, flüsterte sie. „Dann wirst du die Wahrheit erkennen.“
Ehe Esben eine Antwort finden konnte, war Velis verschwunden und das dicke Buch lag vor ihm im Staub der Hölle.
„König Azrael.“ Berith sank vor dem Dämon auf ein Knie.
Azrael nickte und bedeutete ihm, sich zu erheben. Eine Sorgenfalte spaltete seine Stirn. Scheinbar quälte ihn wieder die Stimme, deren Herkunft niemand kannte.
„Berith.“ In einen prächtigen schwarzen Mantel gehüllt, wirkte Azrael wie ein Edelmann. Das prächtige Schwert Murakama lehnte an seinem Thron.
Berith räusperte sich. „Soll ich mich nun um Esben kümmern?“
Azrael schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Er ist fürs Erste aus dem Verkehr gezogen, aber er wird uns später noch gute Dienste leisten. Mehr Sorgen bereiten mir Abigor und unsere Kontaktperson im Heerlager der Tempelsöhne.“
Berith schluckte. Diese Antwort missfiel ihm. „Ashaya kümmert sich bereits um sie.“
„Genau das macht mir Sorgen.“ Azraels Augen funkelten. „Sie war gerade erst hier und wollte Esben abholen.“
Berith nickte. Er hatte ihr diesen Auftrag gegeben.
Azrael knurrte. Er wirkte wie ein Raubtier. „Eine Sterbliche. Hier, in Hornheim? Berith, sie weiß bereits jetzt zuviel. Du verlässt dich zu sehr auf sie.“
„Fürchtet Ihr, sie könnte uns verraten?“, fragte Berith, ohne Emotionen zuzulassen.
Azrael blickte in die Ferne. Er schien der Frage ausweichen zu wollen. „Die Sache mit Iliana und Lifas lassen wir sie noch erledigen, aber um Medardus und Abigor wird sich unsere Kontaktperson kümmern. Aminas indes werde ich jemand anderem überlassen.“
Beriths Herz setzte einen Schlag aus. „Habe ich … habe ich gefehlt, Herr?“
Azrael schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich brauche dich hier. Das Ultimatum ist bald vorbei. Der Kampf steht kurz bevor und diesmal wird es kaum so einfach werden wie in Aminas.“ Seine Augen funkelten. „Aber wenn wir es schaffen, Medardus auf unsere Seite zu bringen, haben wir gewonnen.“
Berith sah ihn erstaunt an. „Was macht Euch so sicher?“
Ein leises Lächeln umspielte Azraels Lippen. „Er stammt aus Astaval. Ich kenne ihn noch aus Kindestagen. Seither hat er sich einen großen Namen gemacht. Wenn wir ihn haben, wird uns niemand mehr ernsthaften Widerstand leisten können.“ Sein Blick fiel auf Beriths Rüstung. „Halte dich bereit. Bald ist es soweit.“
Berith nickte und erhob sich. Eine Schlacht stand bevor.