Gottes Hammer: Folkvang VI
An diesem Tag weckte nicht die Sonne Esben. Stattdessen riss ihn ein langgezogener Schrei aus dem Schlaf. Desorientiert warf er wilde Blicke um sich, bis er das Zelt von Hrandamaer wiedererkannte. Verwirrt erhob er sich von seinem Feldbett und stolperte durch den Eingang. Der Schrei war von außerhalb an sein Ohr gedrungen.
Elinor stand zwischen den Zelten, ein Korb Heilkräuter lag zu ihren Füßen. Sie hielt die Hände vor den Mund geschlagen und starrte aus schreckgeweiteten Augen auf ein unförmiges etwas, das sich in wirren Winkeln vor ihren Füßen befand . Esben trat verwirrt näher, bis er den Körper erkannte.
Er wusste seinen Namen nicht, doch handelte es sich um einen Apostel des Heeres, wie er an der reich verzierten Rüstung unschwer sah. Auf den ersten Blick wirkte er unverletzt, aber eine Lache aus Blut bewies das Gegenteil. Jemand hatte ihn scheinbar getötet und ihm dann, wie zum Hohn, die Rüstung über den Kopf gestülpt. Am schrecklichsten erschienen Esben jedoch die Gesichtszüge des Toten. Grausige Todesangst stand in ihnen und die verdrehten Augen wirkten wie dunkle Splitter unermesslicher Qual.
Andere hatten Elinors Schrei ebenfalls vernommen. Tempelsöhne aller Ränge und Altersstufen versammelten sich vor dem Leichnam. Rufe erschollen. Ein anderer Apostel mit grauem Haar trat vor, kniete nieder und legte seinem gefallenen Kameraden eine Hand auf die Stirn. Einen Augenblick verharrte er und Esben konnte spüren, wie Wellen heiliger Magie durch seine Hände flossen wie rasende Wogen eines Ozeans. Kurz darauf erhob sich der Apostel betrübt und seufzte.
„Er ist tot!“, verkündete er.
Betretenes Schweigen legte sich auf die Versammlung. Die Wahrheit hinter dieser Erkenntnis musste erst in den Herzen der Menschen Fuß fassen. Jemand hatte in ihrer Mitte einen Apostel besiegt!
Rufe erhoben sich und Gespräche wurden laut, doch sie verstummten sofort, als Medardus erschien. Der Inquisitor wirkte noch grimmiger als sonst und seine Augen glichen vernichtenden Sonnen, die jeden in ihrem Weg verbrannten.
Da er nicht auf seinem Stuhl saß, musste der ehrwürdige Clavis sich über Gesten verständigen. Dennoch hatten sie eine ähnliche Wirkung wie seine Stimme. Medardus verfügte über eine charismatische Ausstrahlung, die es jedem unmöglich machte, den Blick von ihm abzuwenden.
Kurz darauf wurde der Tote von einigen Novizen weggetragen. Medardus bedeutete den Aposteln, ihm zu folgen. Überraschenderweise wies er auch auf Esben. Der Priester schluckte. In diesem Moment wünschte er sich unwillkürlich Androgs heidnisches Buch herbei.
Sein Herz hämmerte, als er mit den Aposteln das Zelt betrat. Medardus ließ sich auf seinem Stuhl nieder und sein lodernder Blick flog von Gesicht zu Gesicht. Jeder vermied, ihn direkt anzusehen.
Schließlich räusperte sich Medardus. „Wo ist Apostel Abigor von Hrandamaer?“
Überraschte Blicke glitten über die Versammlung. Esben zuckte peinlich berührt zusammen. Er hatte sein Fehlen nicht einmal bemerkt.
Als handelte es sich hierbei um ein Stichwort, erhellte kurz das Licht der aufgehenden Sonne den spartanisch eingerichteten Raum, als Abigor das Zelt betrat.
„Ich bin hier“, grummelte er. Seine Augen wirkten beinahe ebenso grimmig wie Medardus‘ lodernder Blick. „Was, bei allen Heiligen, ist mit Palayon von Aminas geschehen?“
„Das versuchten wir gerade zu erörtern.“ Medardus deutete mit seinem Mauritiusstab auf den Stuhl neben Esben und Abigor ließ sich wortlos auf die harte Sitzfläche fallen. Er wirkte kalt wie ein Eisblock und Esben musste sich unbewusst fragen, wieso er nicht im Zelt gewesen war. Nun erst fiel ihm auch Siegberts Abwesenheit auf. Begann er nicht normalerweise um diese Zeit schon mit den Vorbereitungen für das Mittagsmahl?
Doch dies war nicht die Zeit für solche Überlegungen, wie Esben Medardus‘ Räuspern entnahm.
„Heute ist ein Apostel von uns gegangen“, begann der Clavis. „Selbstmord können wir, denke ich, ausschließen. Die Wunde befindet sich ganz eindeutig unter dem Harnisch, den anzulegen er in diesem Fall wohl kaum noch die nötige Kraft aufgebracht hätte. Wir müssen von Meuchelmord ausgehen. Die Geräuschkulisse eines fairen Kampfes hätte uns schließlich alle geweckt.“ Er legte die Fingerspitzen aneinander, so als würde er beten. Nach kurzem Schweigen fuhr sein Blick zu dem Apostel, der den Toten begutachtet hatte. „Mendatius von Astaval, ich möchte Euch bitten, hier und jetzt den Leichnam zu untersuchen. Auf etwaige magische Rückstände, versteht sich.“ Trotz seiner Wortwahl machte der Tonfall des Clavis deutlich, dass auch diese Bitte nur als Befehl aufzufassen war.
Esben warf dem gealterten Ritter einen überraschten Blick zu, als er sich erhob und das Zelt verließ. Astaval galt heute als nahezu menschenleer. Dieser Mann musste bereits vor dem Krieg geboren worden sein. Ob er sich vielleicht sogar an Teshin erinnerte?
„Tempelwächter Esben.“ Er zuckte zusammen, als Medardus‘ lodernder Blick auf ihm ruhte. „Ihr habt gewisse Erfahrung mit Dämonen. Gibt es in Hornheim eine Person, die ihre Gestalt verändern kann?
Esben benötigte eine volle Sekunde, um den Worten des Inquisitors einen Sinn abzugewinnen. Er räusperte sich verlegen. „Ich denke nicht. Allerdings weiß ich von jemandem, der einen Menschen durch seine Magie auf jede beliebige Distanz betäuben und ihm unsanfte Träume bereiten kann …“ Die Erinnerung an Berith ließ Esben auch nun noch erschaudern. Ihn hatten während seiner Bewusstlosigkeit keine Visionen gepeinigt, aber Iliana waren solche Träume zuteilgeworden. Esben biss sich auf die Lippe. Er hätte sie genauer danach fragen sollen.
„Wie heißt dieser Dämon?“, fragte Medardus.
Esben räusperte sich erneut. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an. „Berith.“
Der Clavis nickte und ein Raunen ging durch die Runde. Offenbar war er den gelehrten Aposteln nicht unbekannt.
„Etwa jener Berith, der auch im ketzerischen Daymonikon erwähnt wird?“, fragte ein jüngerer Ritter erstaunt.
Esben kannte die Schrift, hatte sie jedoch nie zu Gesicht bekommen. Verbotene Bücher durften nur von Bischöfen eingesehen werden. Er setzte gerade zu einer Antwort an, als Medardus eine Hand hob.
„Für Abgleiche wird später noch Zeit genug sein“, rief er. „Tempelwächter Esben, haltet Ihr es für wahrscheinlich, dass besagter Dämon in dieses Lager eingedrungen ist?“
Esben legte den Kopf schief. „Ich denke, es würde zu ihm passen“, erwiderte er schließlich. „Als ich gegen ihn gekämpft habe, erschien er mir als sehr hinterhältig.“ Ein weiteres Raunen brachte Esben in Verlegenheit. Er verkniff es sich, seine unrühmliche Niederlage zu erwähnen. „Ich denke, er würde sicherlich so vorgehen, um uns zu verwirren und unsere Moral zu zerrütten, vielleicht sogar um uns gegeneinander aufzubringen. Er hat schließlich auch Iliana im Traum heimgesucht.“
Medardus nickte. „Dennoch … es könnte sich auch um einen Trick handeln“, entgegnete er. „Möglicherweise befindet sich in diesem Lager tatsächlich eine Person, die mit den Dämonen zusammenarbeitet.“ Wieder ruhte sein Blick auf Esben. „Eure junge Gefährtin wurde beinahe getötet. Das war kein Fluch von diesem Dämonen, es war reines, profanes Gift. Jemand musste bei ihr sein, um es ihr zu verabreichen.“ Seine Augen wanderten weiter zu Abigor. „Eure Nichte hat sich doch um sie gekümmert, nicht wahr? Wir sollten sie befragen. Schließlich hat sie auch den Apostel Palayon gefunden. Sollte es sich bei dem Täter jedoch tatsächlich um einen Dämonen handeln, werden wir dies durch Euren Bericht herausfinden, Esben.“
Esben nickte. Er hatte die Zeit nach Ilianas Abreise mit der Niederschrift all seiner Informationen über die Dämonen Hornheims verbracht. Er musste nur noch Azraels Fähigkeiten erläutern.
In diesem Moment kehrte Mendatius in das Zelt zurück. Seine Augen glichen kaum sichtbaren Schlitzen. „Getötet wurde er durch eine Stichwunde, aber ich kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass Magie im Spiel war.“ Er räusperte sich, so als genierte er sich für seine folgende Vermutung. „Palaymon trägt eine schwarze Rune auf der Brust, die exakt jener gleicht, die der Choral des langen Schlafes verursacht.“
Schockiertes Schweigen machte sich breit. Entsetzen ergriff Esben. Berith beherrschte gewiss keinen Choral und auch die übrigen Dämonen konnten sich einer solchen Fähigkeit wahrscheinlich nicht rühmen. Was mochte das bedeuten?
Medardus nickte. Seine behandschuhte Faust umklammerte den Mauritiusstab wie eine tödliche Lanze. „Jemand hat den Choral des langen Schlafes angewandt, ihn aber ins Gegenteil verkehrt. Die Rune müsste weiß sein. Dass sie schwarz ist, kann nur bedeuten, dass sie mit gottloser Magie gezeichnet wurde.“ Medardus machte eine unheilsschwangere Pause. „Das ist Ketzerei. Was sage ich, es ist Dämonie! Jemand verhöhnt uns, indem er unsere eigenen Waffen zu profanen Tötungsmitteln umfunktioniert!“ Diese Nachricht schien Medardus mehr zu erregen als der Mord selbst.
Im nächsten Augenblick räusperte er sich jedoch und fing sich wieder.
„Diese Versammlung hätte auch ohne diesen Mord stattgefunden“, erklärte er schließlich. Seine Augen glühten. „Mich hat heute, kurz vor Sonnenaufgang, ein Bote erreicht. Ein Dämon mit Löwenkopf ist in Aminas aufgetaucht und hat den Bischof entführt. Angeblich meinte er, er würde ihn für sein sündiges Leben in die Hölle hinabziehen.“
Erschrockene Blicke machten die Runde. Esbens Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte angenommen, dass die Dämonen in Hornheim festsaßen, solange das Heer der Tempelsöhne den Weg durch den Heidenwald blockierte. Er erinnerte sich an den Dämonen mit dem Löwenkörper. Er hatte ihn vor zwei Tagen in Hornheim gesehen! Selbst wenn er sich sofort nach ihrer Niederlage auf den Weg gemacht haben sollte … die Zeit des Boten musste auch miteinberechnet werden … war dies schlichtweg unmöglich. Esben erschauderte. Konnten die Dämonen etwa an jedem beliebigen Ort erscheinen?
Die Apostel teilten seine Gedanken offenbar. Medardus nickte langsam.
„Wir befinden uns hier in einem Krieg. In einem heiligen Krieg.“ Der Clavis erhob sich. „Diese Dämonen wollen ganz offenbar zur maßgeblichen geistlichen Instanz im Reich werden. Sie wollen sich selbst zu Göttern krönen und die Menschheit mit der Drohung der Hölle versklaven. Dies hier ist kein Kampf um Ehre oder Land … es ist ein Kampf um das Schicksal … um die Freiheit der Menschen.“
Mit diesen Worten entließ Medardus sie und Esben hatte das Gefühl, als bräche seine Welt nun endgültig zusammen.
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Azrael saß auf seinem steinernen Thron am Ufer und blickte hinaus auf die schwarzen Fluten des Sees Sökkvar. Er musste sich unwillkürlich fragen, wer Hornheim wohl geschaffen hatte. Ihm erschien es weitaus kunstvoller als seine Höllendimension.
Eine Hölle muss nicht kunstvoll sein, sie muss nur viel Feuer haben und wehtun, kicherte die Stimme in seinem Kopf.
Azrael ließ sie gewähren. Die Müdigkeit beraubte ihn seines Widerstands. Er hatte das Geheimnis dieser seltsamen Stimme noch nicht entschlüsselt und bezweifelte, ihr je auf die Spur zu kommen. Er hoffte nur, dass sie ihn im Kampf nicht behindern würde. Sie standen kurz vor dem Angriff auf das Lager der Tempelsöhne.
„Herr!“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Azrael wandte sich um und erblickte Ungoros. Der Dämon besaß die wohl hässlichste Gestalt in ganz Hornheim. Er glich einem großen, runden Fleischklumpen voller Falten, aus dem zwei kaum erkennbare Augen seine Umgebung anfunkelten. Ein dünner Strich bildete seinen Mund. Missgebildete Beine entwuchsen ihm und zwei winzige Fledermausflügel flatterten an seiner Seite. Azrael wusste, dass er sich mittels Magie in der Luft hielt. Anderenfalls könnten weder seine Flügel, noch seine Beine das Gewicht des klobigen Körpers tragen.
Kurz erlaubte Azrael sich einen Moment der Verwunderung. Als Mensch hätte er sich gewiss vor den weißen Maden geekelt, die Ungoros‘ Falten durchstreiften und eitrige Flüssigkeit verspritzten. Doch nun … weder konnte er sich am Schönen erfreuen, noch konnte er das Hässliche verachten. Möglicherweise lautete der Grund dafür, dass Dämonen sich im Normalfall nicht fortpflanzen konnten und daher auch keinen Sinn für die Schönheit ihres Partners benötigten.
Azrael räusperte sich. „Was ist dein Begehr?“, fragte er förmlich. Er wusste, dass Ungoros lieber kunstvoll mit ihm sprach.
Der Fleischklumpen offenbarte nun seine poetischen Fähigkeiten. „Es wär nun gar soweit, dünkt es mich wilde, mich hinabzubegeben in düstere Gefilde. Denn ziemt es wohl kaum einem solchen Gott, sich zu genieren auf seines Kinders Schafott.“
Azrael nickte dankbar. Ungoros schlug ihm vor, an seiner statt die von ihm geschaffene Hölle zu überwachen. „Geh nur“, sagte er. „ich werde dich bald dort brauchen. Wie wir es abgesprochen haben.“
„’s deucht mich wohl, dass sie ruft, die Pflicht. So hinab, hinab, wo es rußt die Sicht.“ Azrael verdrehte die Augen, als Ungoros sich umwandte und auf das Portal dahinter zusteuerte. Seine Hölle beherbergte bereits einige Gäste. Erst tags zuvor hatte Malfegas den Bischof von Aminas entführt. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Geistliche in seinem „Jungfernturm“ schreckliche Dinge tat.
Tja, schlechte Menschen gibt es überall.
Diesmal konnte Azrael der Stimme beim besten Willen nicht widersprechen. Sie klang sogar traurig.
Plötzlich drang eine andere Stimme an sein Ohr, die ihn ganz und gar nicht mit Trauer erfüllte.
„Azrael!“
Er wandte sich um und erblickte Velis, die ungestüm auf ihn zurannte. Der Anblick des Sklavenmachers um ihren Hals versetzte ihm einen Stich. Er hatte es noch immer nicht geschafft, sie vom Fluch ihres grausamen Vaters zu befreien.
Er erhob sich und sie fiel ihm in die Arme. Wilde Wärme durchdrang Azrael, als ihre Lippen sich zum Kuss trafen.
Als Mensch hätte er sicherlich Gewissensbisse verspürt. Schließlich glich Velis‘ äußerliche Gestalt einem Kind. Aber als Dämon beeinflussten ihn solche Emotionen nicht.
Velis lächelte spitzbübisch und ihre Augen funkelten, als sie sich an ihn schmiegte. Von Zeit zu Zeit kam es Azrael so vor, als sehnte sie sich regelrecht nach Berührung, wie als Beweis für ihre Existenz. Er schluckte. Sicherlich trugen die Taten ihres Vaters die Verantwortung dafür.
Velis war kein gewöhnlicher Dämon. Wie er Halgin und Esben gegenüber richtig vermutet hatte, handelte es sich bei ihr vielmehr um einen Halbmenschen. Anders als er war sie nicht gestorben. Als Tochter eines Dämons von Hornheim und einer seiner Untergebenen bildete sie im Gesetz der Fortpflanzung eine absolute Ausnahme.
„Und?“, fragte sie nach kurzem Schweigen. „Werden wir es jetzt tun?“
Azrael nickte. „Die Gelegenheit ist günstig. Der Fürst von Aminas ist ein junger, unsicherer Mann und die Erinnerungen an die Taten dieses furchtbaren Bischofs haben die Herzen der Einwohner gegenüber der Denomination verhärtet. Aber das Wichtigste ist, dass uns kein Inquisitor in die Quere kommen kann.“
„Ist es nicht irgendwie grotesk, dass die Menschen von Inquisioren mehr fasziniert sind als von Tugend und Reinheit?“, fragte Velis leise.
„Vielleicht sind sie es deshalb, weil beides nicht existiert“, erwiderte Azrael verbittert. „Ich meine, sieh uns an. Jedes Gericht der Welt würde uns wegen Unzucht am Galgen baumeln lassen.“
Velis kicherte. Dabei klang sie immer wie ein normales Mädchen, das nicht bereits seit Jahrzehnten versuchte, die Welt zu retten. Azrael strich über ihr langes Haar. Ohne ihre Intervention wäre Irodeus noch König von Hornheim und er selbst würde nicht einmal existieren. Er verdankte ihr sowohl als Teshin, als auch als Azrael sein Leben.
Velis deutete auf den See Sökkvar. „Glaubst du wirklich, dass Androg dort begraben liegt?“
Azrael schnaubte. „Das fragst du mich? Ich existiere erst seit wenigen Monaten! Aber wenn du mich fragst, ist das eine Legende wie jede andere.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber dass man dort angeblich den Verstand verliert … das ist schon interessanter. Wir beide wissen, in welchem Zustand Sitraxa vor ihrem Tod war.“
Velis sah ihn überrascht an. „Sie ist tot? Ich dachte, Esben hätte sie in seinem Buch versiegelt!“
Azrael schüttelte den Kopf. „Er hat das Wesen versiegelt, das einmal eine gute Freundin von mir war, bevor Irodeus sie raubte und sie Sitraxa schenkte.“ Obwohl er diese Frau eigentlich nie getroffen hatte, schmerzte sein Herz beim Gedanken daran. Offenbar nahmen Teshins Erinnerungen mehr Einfluss auf seine Gefühlswelt, als er ursprünglich vermutet hatte. Ein ähnlicher Schmerz war ihm während des Kampfes gegen Halgin zuteilgeworden.
Bevor Velis zu einer Antwort ansetzen konnte, erscholl hinter ihnen lautes Gelächter.
„Sieh sie dir an!“, rief Malfegas und schüttelte seinen gewaltigen Löwenkopf. „Da sitzen sie, Arm in Arm, und genieren sich nicht! Und das in so einer sittsamen Einrichtung wie der unseren!“
Beriths Miene blieb beherrscht, obwohl eine seiner Augenbrauen nach oben wanderte. Die beiden Dämonen standen erwartungsvoll vor ihnen.
Azrael atmete tief durch und erhob sich dann. Ernst umwölkte Velis‘ Blick.
Nun würden sie die Initiative ergreifen.
„Alles läuft nach Plan“, sagte er. „Iliana ist auf dem Weg nach Hrandamaer, Ashaya bereitet sich dort vor, Medardus lagert im Heidenwald und der Engel bleibt vorerst zurückgezogen. Aminas liegt ungeschützt da. Wir müssen es uns nur holen.“ Er warf einen Blick auf Malfegas. „Du bist dir sicher, dass die Hinrichtung heute stattfindet?“
Der große Löwe lachte unbeherrscht, wobei kleine Funken aus seinem Maul stoben.
„Natürlich! Die eine Hälfte der Stadt freut sich auf das Bier, die andere auf die Schreie. Schließlich stehen der Bürgermeister und seine sieben Töchter auf dem Spielplan, das will niemand verpassen.“
Teshins Erinnerungen an den ersten Bürger der Stadt kamen ihm in den Sinn. Ein vollkommen unsympathischer Mensch, aber einen solchen Tod hatte er nicht verdient.
Azrael atmete tief durch. Dann wandte er sich um und watete in die schwarzen Fluten des Sees Sökkvar. Das dunkle Wasser ermächtigte Berith, in die Träume anderer einzudringen. Ihn hingegen ließ es Portale öffnen.
Jeder von ihnen musste nur einen Schritt tun, um mit der Läuterung der Welt zu beginnen.