Gottes Hammer: Folkvang V
Ich seufze befreit und schlage wie wild mit meinen Flügeln, als die Winde mich umarmen. Mein Körper scheint mit jedem Tag leichter zu werden und es kostet mich immer weniger Anstrengung, mich zu bewegen.
Wie sollte es auch anders sein? Schließlich entstamme ich Folkvangs heiligen Hallen.
Ich spähe hinab auf das weite Land und lasse vor meinem geistigen Auge die Jahrhunderte vorüberziehen. So ungemein viele Menschen … alle emsig im Streben vereint. Wenn sie nur wüssten, was ich jetzt weiß. Wäre ihnen das Leben auf ewig vergällt oder könnten sie sich erst richtig daran erfreuen?
Trauer überkommt mich, als ich einen Blick auf Aminas werfe. Eine große Stadt voller Groll und Missgunst, voller Ungerechtigkeit und Leid. Kurz erlaube ich mir, in der Geschichte eines jungen Mädchens zu versinken, dass der Hexerei angeklagt und vor genau fünfzig Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der Inquisitor hielt es zudem für angemessen, zwei kleine Kinder mit Peitschen über den Hauptplatz treiben zu lassen, bis ihre geschundenen Leiber zitternd in die Hände ihrer bleichen Eltern fielen.
Fürwahr, je stärker man auf Menschen einprügelt, desto stärker prügeln sie zurück.
Die beiden Kinder zogen zehn Jahre später in den Krieg und sahen lachend zu, wie eine Frau vor den Augen ihres fünfjährigen Sohnes von anderen Soldaten zu Tode gequält wurde. Der Sohn zog seinerseits zehn Jahre später in den Krieg und verübte einen Anschlag auf einen Sprössling von Hrandamaer. Er überlebte, aber der Sohn hatte den Groll in ihm entzündet. Und jetzt steht dieser Nachkomme Hrandamaers in einem Zelt im Heidenwald und ringt mit dunklen Mächten.
Es ist ein ewiges Rad.
Ich sehe eine Zeit lang zu. Ich weiß nicht, ob ich eingreifen soll. Ist es Trägheit, die mich auf diese Weise ummantelt? Ich schlage energisch mit den Flügeln, wie um diesen Verdacht zu entkräften.
Vor langer, langer Zeit habe ich Gott immer vorgeworfen, meine Stimme geraubt und dennoch niemandem geholfen zu haben. Ich habe ihn der Trägheit bezichtigt.
Jetzt bin ich wieder in dieser Situation, aber in einer anderen Rolle.
Ich spähe auf die Person hinab, die der Sohn Hrandamaers behandelt und erstarre. Ja, ich, eine Elphahir Folkvangs, erstarre.
Im nächsten Moment verlasse ich im Sturzflug die friedlichen Gefilde des Himmels und begebe mich hinab ins unheilsschwangere Reich meiner Herde.
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Abigor atmete schwer.
Er wusste nicht, welcher Trottel den Menschen von einem Exorzismus berichtet hatte. Er versuchte hier nur, das verdammte Gift im Körper dieses verdammten Mädchens zu neutralisieren. Seine Nichte stand zitternd neben ihm und hielt die Hände vors Gesicht geschlagen, während sie zusammenhangslose Worte hervorstieß, die wohl als Gebet gedacht waren.
Verdammt.
Iliana lag schweißgebadet auf dem Feldbett. Jegliche Farbe war aus ihrem schmerzverzerrten Gesicht gewichen. Eben hatte sie noch von einem seltsamen Traum berichtet, nun lag sie schon wie eine Leiche vor ihm.
Abigor schnaubte wutentbrannt, während er seine Kräfte sammelte und die heilige Magie förmlich durch ihre Venen jagte. Gottes Humor nahm sich recht eigentümlich aus, wenn er ein unschuldiges Mädchen zu sich rufen und ihn alten Sünder verschonen wollte.
Verdammt.
Er kannte das Gift. Ja, er kannte es sogar sehr gut. Sein Körper hatte bereits davon gekostet, in jener Nacht vor dreißig Jahren, als ein Knabe ein Attentat auf ihn verüben wollte. Diese verdammte Substanz lähmte ihr Opfer, sodass jede Bewegung unmöglich schien. Jedoch hieß dies nicht, dass der Tod schmerzlos vonstattenging. Im Gegenteil.
Abigor fluchte, als der helle Schein seines Zaubers verflog und seine Bemühungen wirkungslos blieben. Welcher verdammte Schleicher hatte ihr nur das Gift verabreicht? Oder stammte es noch aus Hornheim?
Abigor sah nur noch eine letzte Möglichkeit. Er hatte seine Stimme nicht geopfert, weshalb ihm der Zugriff auf die meisten Choräle verwehrt blieb. Aber einen kannte er, mit dessen Macht er in Hrandamaer ein Totenfeld auf einmal geläutert hatte.
Abigor sank nieder auf ein Knie und begann zu singen. Es handelte sich um die herzzerreißende Geschichte eines Bruders und seiner Schwester, die sich aus den Augen verloren und nach langen Irrwegen wieder zueinander fanden.
Er kam nicht weit.
Mit einem Mal erfüllte solche Heiligkeit das Zelt, dass dem Bischof sein eigener Choral plump und profan erschien. Abigor schirmte mit der Hand sein verbliebenes Auge ab, nur um sie überrascht wieder sinken zu lassen. Fassungslosigkeit meuchelte seine Gedanken.
Ein Engel stand vor ihnen.
Es handelte sich um eine Frau mit strahlend weißen Flügeln und gütigen Gesichtszügen, die in einer wallenden Robe, halb Stoff, halb Stahl, an das provisorische Krankenbett trat und Iliana eine Hand auf die Stirn legte. Der folgende Zauber ließ Abigor nach Luft schnappen und ihn geblendet sein verbliebenes Auge schließen. Als das Licht erlosch, regte sich das Mädchen schwach. Der Engel lächelte aufmunternd.
Dann stieß Iliana mit einem Mal einen langgezogenen Schrei aus.
Elinor stolperte vor Schreck und Abigors Hand fuhr zu seinem Schwert. Dünne Fäden aus Schatten schraubten sich aus Ilianas weit geöffnetem Mund. Der Engel schien das Gift förmlich aus ihrem Körper zu zwingen.
Abigor zuckte zusammen, als ein Handgemenge am Zelteingang den Vorgang störte. Lifas und Esben, der Priester, stolperten mit verwirrten Mienen in das Lazarett, die weit geöffneten Augen auf die eindrucksvolle Gestalt vor ihnen gerichtet.
In diesem Augenblick begann die Frau zu singen.
Abigor verstand die Sprache nicht, aber sie erschien ihm nichtsdestominder göttlicher als alles, was er zuvor gehört hatte. Die Töne griffen melodisch ineinander, wie die Hände feiernder Menschen, die in einem Tanzkreis ihrer Freude frönten. Alles hatte seine feste Ordnung und kein Wort blieb sich selbst überlassen in diesem kunstvollen Satzgeflecht.
Im nächsten Moment erhellte ein Lichtblitz den Raum, der Gesang endete und der Engel war verschwunden. Iliana saß aufrecht und gesund auf dem Bett, verwirrt blinzelnd, so als wäre sie gerade erst erwacht. Sie alle tauschten verwunderte Blicke. Niemandem erschienen einfache Worte der sakrosankten Stille des Moments angemessen.
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„Ich muss nach Hrandamaer“, murmelte Iliana. Sie fühlte sich seltsamerweise beschwingt und voller Energie. Von den Auswirkungen des Giftes spürte sie nichts mehr.
Sie lehnte an einem dicken Baum, den wohl selbst zehn Tempelsöhne nicht umfassen könnten, und wartete auf Esbens Reaktion. Er wirkte fahrig und abgelenkt, so als erholte er sich immer noch von der Begegnung mit dem Engel. Als sie ihr Anliegen wiederholte, erschrak der gefallene Priester sichtlich, räusperte sich dann jedoch verlegen.
„Hrandamaer ist kein Ort für eine junge Maid“, antwortete er vorsichtig.
„Hornheim auch nicht!“, erwiderte Iliana bissig. „Und hier bin ich offenbar auch nicht sicher! Abigor meinte, dass ich vergiftet wurde. Hier muss es jemanden geben, der es auf uns abgesehen hat.“ Eine brennende Frage schlich sich auf Ilianas Zunge. „Abgesehen davon … was ist so schlimm an Hrandamaer? Lifas und Abigor müssen ja schließlich auch dort aufgewachsen sein!“
Esben rang sichtlich mit sich. Schließlich seufzte er ermattet und nickte langsam. „Erinnerst du dich an das Wort Hrandar?“
Iliana erschauderte. Velis‘ untoter Diener Berengar kam ihr in den Sinn. „Ich werde es nie vergessen.“
Esben räusperte sich. Offenbar bereitete ihm dieses Thema Unbehagen. „Hrandamaer bedeutet übersetzt soviel wie Kunde von Untoten. Diesen Namen haben die Bewohner ihrer Heimat nicht selbst gegeben, er wurde in den übrigen Regionen nach der … Katastrophe gebräuchlich.“
Ihr Unwissen peinigte Iliana. „Welche Katastrophe?“
Esbens Blick schweifte ab. „Erinnerst du dich an Androgs Halle? In Hornheim?“
Iliana nickte. Sie entsann sich, dass Esben dort für eine Weile gelebt hatte.
Esben räusperte sich erneut. „Sie ist nach dem letzten König von Hrandamaer benannt. Sein Reich wurde nach seinem Tod in ein Herzogtum umgewandelt. Angeblich brachte er den Fluch über seine Heimat …“
„Ganz genau.“
Iliana fuhr erschrocken zusammen und Esben vollführte einen Satz nach hinten. Lifas stand kerzengerade vor ihnen, seine Miene blieb bar jeder Emotion.
Kurz kehrte Stille ein. Lifas‘ kühle Augen schienen bis auf den Grund von Ilianas Seele zu starren. Dann umspielte der Anflug eines Lächelns seine schmalen Lippen.
„Ich habe vom Inquisitor und heiligen Clavis Medardus den Befehl erhalten, umgehend in meine Heimat zurückzukehren. Ihr sollt mich begleiten, Fräulein Iliana.“ Dabei verneigte er sich galant. „In Hrandars Faust residiert das Orakel, das Euch vom Einfluss der Dämonen befreien wird.“
Ilianas Herz schlug schneller. Ihr Verdacht, dass jemand im Lager der Tempelsöhne mit Hornheim in Verbindung stand, erhärtete sich. Konnten solche Zufälle existieren? Oder hatte Berith dies alles geplant?
„Was ist mit mir?“, fragte Esben prompt.
Lifas schüttelte den Kopf und deutete mit dem Kinn auf das Buch, das Esben nun in einem Gerüst um den Oberkörper geschlungen trug. „Eure Fähigkeiten werden gebraucht.“ Damit wandte er sich wieder an Iliana. „Ich lasse Euch noch Zeit für den Abschied, dann brechen wir umgehend auf.“
„Ich würde Elinor auch noch gern Lebewohl sagen“, rief Iliana, als Lifas sich umdrehte.
Kurz schien es, als bohrte sich eine Art Stachel von Menschlichkeit in die undurchdringliche Fassade des jungen Ritters. Aber der Moment endete sofort und er nickte nur. „Ich warte vor dem Lazarett auf Euch!“, rief er.
Er ließ unangenehmes Schweigen zurück.
Iliana kannte Esben seit kaum zwei Tagen und dennoch schien er schon ein fester Teil ihres Lebens geworden zu sein. Bei dem Gedanken, auch noch ihn verlassen zu müssen, schmerzte Ilianas Herz. Vielleicht geriet sie auf diesem Wege sogar in die Falle der Dämonen. Dennoch, sie musste etwas tun. Sie benötigte ein Ziel, ein etwas, auf das sie hinarbeiten konnte. Möglicherweise handelte es sich dabei auch nur um eine Ausrede ihrer selbst, um der Verantwortung des Denkens so elegant wie möglich zu entkommen, aber sie besaß keine Perspektive, keine Überzeugung. Esben hatte eine Kirche, für die er kämpfen wollte, sie hatte nur ihr Leben.
Er schien all dies zu verstehen.
„Ich brauche wohl Zeit, um das alles zu verarbeiten“, murmelte sie, während ihr Blick auf den grünen Boden fiel. Die Grashalme wiegten sich sacht im sanften Wind.
Esben nickte langsam. „Du bist vielleicht noch ein Kind, aber du sprichst schon wie eine Erwachsene“, erwiderte er leise. „Aber das ist wohl das Schicksal jener, die wie du so früh solches Leid mitansehen müssen.“
Zu Ilianas Überraschung kniete er vor ihr nieder und nahm sie in den Arm. Etwas zögerlich erwiderte sie die Geste.
Sie schwor sich, diese Erinnerung immer in ihrem Herzen zu bewahren.
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„Ein Engel? Also eine Elphahir Folkvangs?“, fragte Medardus langsam. Abigor schluckte. Dank der Maske konnte er die Gefühle des Inquisitors unmöglich erraten.
Falls er überhaupt welche hegte.
„Es scheint so“, erwiderte er. „Mehr noch, der neu eingesetzte Tempeldiener Esben wirkte, als ob er die Person kannte. Er bleibt jedoch verschlossen.“
Kurz kehrte Stille ein. Medardus machte keine Anstalten, weiterzusprechen. Abigor räusperte sich und fuhr fort. Die respektvolle Anrede fiel ihm mit zunehmendem Alter immer schwerer. „Ehrwürdiger Clavis, wenn die Anmerkung erlaubt ist, viele Legenden bewahrheiten sich in dieser unruhigen Zeit. Hornheim, Sankt Esbens erste Kirche, Androgs Chronik und nun auch noch Folkvang? Was geschieht hier?“
Einen Moment lang schien es, als bliebe ihm der Inquisitor die Antwort schuldig. Schließlich erhob er sich jedoch und griff nach seinem Mauritiusstab.
„Gottes Hammer regt sich. Das geschieht.“
„Aber was ist Gottes Hammer?“, rief Abigor verzweifelt. „Ist das ein Dämon? Oder ein Engel?“
Medardus trennte die Verbindung zu dem heiligen Nexus um seinen Stuhl. Er war wieder stumm.
Abigor verstand, murmelte einen Salut und zog sich zurück. Außerhalb des Zeltes machte er seinem Ärger Luft, indem er ein lautes Knurren losließ. Zwei Novizen, die das Zelt des Clavis bewachten, fuhren erschrocken zusammen. Ja, es gab einen Grund, warum manche ihn nur unter dem Namen „der Bär“ kannten.
Er musste endlich herausfinden, worum es sich bei Gottes Hammer wirklich handelte. Medardus verbarg weitaus mehr vor ihm, als nur sein Gesicht.
Er wusste auch, wie er dies schaffen konnte.
Abigor wandte den Blick gen Westen. Die Sonne ging langsam unter. Er fühlte, wie die Kraft in seine Glieder zurückkehrte. Ja, nachts war er wirklich er. Nachts konnte er seine wahre Macht nutzen.
Ohne Umschweife betrat er das Zelt von Hrandamaer. Esben schlief bereits. Er war ein wahrhaft frommer Priester, auch wenn er ein heidnisches Buch benutzte. Wenn er nur wüsste …
Abigor fand, wen er gesucht hatte. Siegbert kauerte zitternd in einer Ecke und musterte ihn ängstlich. Er fühlte, dass seine Zeit gekommen war.
Niemand hielt ihn auf, als er zusammen mit seinem Bediensteten das Lager verließ.
In dieser Nacht fand Abigor keinen Schlaf mehr.