Gottes Hammer: Folkvang III
Iliana sah sich überrascht um.
Sie stand in einem vollkommen weißen Raum, in dem sich ein edler Ebenholztisch und zwei Stühle befanden. Verwirrt trat sie näher. Sie erkannte auf der polierten Fläche die taktische Karte aus Medardus‘ Zelt. Wo war sie hier?
Iliana hielt nach einer Tür Ausschau, doch sie fand keine. Panik beschleunigte ihren Herzschlag. Es musste doch einen Ausgang geben! Wie wäre sie sonst hereingekommen?
Just in diesem Moment bemerkte sie plötzlich eine Gestalt in einem der Stühle.
Hätte es sich um eine unbekannte Person gehandelt, wäre Iliana wahrscheinlich die Frage durch den Kopf gegangen, wie sie den Neuankömmling hatte übersehen können. Doch sie erkannte den Besucher sofort wieder.
„Ich grüße dich“, sagte Berith emotionslos. Seine roten Augen funkelten wie lodernde Sterne in der Nacht. Er schlug die Beine übereinander und spreizte seine gewaltigen Fledermausflügel.
„Wo bin ich hier?“, fragte Iliana schrill. Sie wich zurück und warf wilde Blicke in alle Richtungen. Sie brauchte eine Waffe! Zähneknirschend fiel ihr ein, dass sie den Bogen in Hornheim zurückgelassen hatte.
„Weißt du das nicht?“ Berith klang ehrlich erstaunt. „Du träumst. Ich spreche hier direkt in deinem Kopf zu dir.“
Iliana erinnerte sich. Elinor hatte ihr erlaubt, die Nacht im Lazarett zu verbringen. Die Erschöpfung wiegte sie bald in den Schlaf.
Iliana atmete tief durch. Ein Traum fühlte sich anders an, er waberte gleich dunklem Nebel am Rande des Bewusstseins. Sie konnte jedoch alles spüren und ertasten. Als sie sich an die Wand presste, schrie sie vor Schmerz auf. Unsägliche Hitze erfüllte die weiß gestrichene Mauer.
Berith betrachtete sie genau. Sein Gesicht glich einer starren Maske. „Ein interssanter Raum“, merkte er an. „Ich habe schon viele solcher Zimmer gesehen, aber deines unterscheidet sich doch merklich von anderen.“ Dabei fuhr er mit einer seiner bleichen Hände über die Stuhllehne. „In diesem Holz steckt förmlich der Geist des Heidenwaldes. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, du hättest dein ganzes Leben dort verbracht. Scheinbar gehörte dein Herz nie dem Dorf Raureif.“ Iliana musterte ihn ängstlich. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Erinnerungen umwölkten ihre Seele und ließen sie schlucken. Kaum hatte Elinor sie getröstet, erhob sich der Albtraum von neuem. Frustriert ballte sie die Fäuste. Der Zynismus des Schicksals verschonte auch sie nicht.
Berith fuhr indes mit seinen Auspizien fort. „Heiße Mauern, die alles verbrennen, was den Raum betreten will. Aber sie sind nicht nur ein Schutzmechanismus, sondern auch ein Gefängnis.“ Berith erhob sich und drückte seine Hand gegen die Wand, so als ob er die Hitze nicht wahrnehmen würde. „Auf der anderen Seite wartet all deine Wut auf dich. Du tätest gut daran, sie nicht passieren zu lassen.“ Er ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und deutete auf den Ebenholztisch. „Und dann noch das Bild.“
Iliana trat unwillkürlich näher. Der Tisch glich dem in Medardus‘ Zelt, aber statt der Karte erspähte sie das Porträt zweier rot glühender Augen, die sie bedrohlich musterten. Eine einzige schwarze Feder bedeckte sie.
Iliana wich zurück und sank auf die Knie. Ihre Hände zitterten und sie schluckte. Sie kannte diesen Blick. Diese Augen hatten den Bürgermeister von Raureif durchbohrt, bevor Murakama es tat.
„Hör auf!“, flehte Iliana und schlug die Hände vors Gesicht. Ihr ganzer Körper bebte. „Geh! Hör auf!“
Berith sah sie ohne jede Regung in seiner Miene an. „Wenn es dein Wunsch ist, werde ich meine Analysen selbstredend abbrechen. Wissen ist Macht, doch Macht ist eine Bürde. Den meisten Menschen ergeht es besser, wenn sie nichts wissen.“
Iliana hob überrascht den Kopf. Berith sah über die Tischkante auf sie hinab. Mit einem Mal kam ihr ein Gedanke.
„Ist Halgin tot?“, fragte sie und ihre Stimme brach.
Eine von Beriths schneeweißen Augenbrauen wanderte nach oben. „Was hättest du davon, wenn ich jene Frage beantwortete?“
„Weshalb bist du sonst hier?“, fragte Iliana. „Wenn du mich quälen willst, nur zu, aber sag mir vorher, ob Halgin noch lebt!“
Der Anflug eines Lächelns umspielte Beriths schmale Lippen. Seine Augen aber blieben ausdruckslos.
„Nehmen wir einmal an, ich beantworte deine Frage mit Ja“, begann er. „Du würdest mich drängen, dir seinen Aufenthaltsort zu verraten. Wenn ich das tue, wirst du sofort zu Lifas oder Abigor gehen und um eine Rettungsaktion bitten. Sie werden dem nicht zustimmen, da es sich um eine Falle handeln könnte. Schließlich bin ich der Feind. Somit würde dich diese Information nur martern, während du zur Untätigkeit verdammt bist.“ Berith machte eine Pause. „Wenn ich dir nun sage, dass Halgin tot sei, könnte das immer noch eine Lüge sein. Ich bin ein Dämon. Du misstraust Dämonen. Somit misstraust du mir. Dein Ansinnen ist daher an sich absurd.“
Iliana erhob sich voller Gram. „Wie könnte ich euch nicht misstrauen! Ihr foltert Menschen in Hornheim zum Vergnügen!“
Berith legte den Kopf schief. „Was bringt dich auf den Gedanken?“
Iliana lachte laut auf. Das Geräusch war selbst ihr unheimlich. Alle Hoffnungslosigkeit der Welt schien darin mitzuschwingen. „Soll das ein Witz sein? Ich habe gegen Sitraxa gekämpft!“
„Nun gut. Lass uns deine Vorgehensweise analysieren.“ Nun klang Berith wie der Pfarrer, der von Zeit zu Zeit Kinder in Raureifs Dorfschule unterrichtete. „Deine Stichprobe umfasst eine Person. Du schließt von dieser Person auf alle Dämonen. Da Sitraxa sehr … besonders war, bedeutet dies deiner Vorgehensweise nach zu urteilen, dass alle Dämonen ihr gleichen, richtig? Dann werde ich diese Methode auf die Menschheit anwenden. Medardus foltert und verbrennt junge und alte Frauen, richtig? Dies müsste bedeuten, alle Menschen foltern und verbrennen einander. Richtig?“
Iliana starrte ihn mit offenem Mund an. Glücklicherweise fielen ihr rechtzeitig Azraels Worte ein.
„Euer König sprach doch davon, dass ihr Menschen in Hornheim bestraft, oder nicht?“
„Tut ihr das etwa nicht?“
Gereizt schnaubte Iliana. „Ja, aber nicht … so.“
Berith lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Wenn mein König dich nicht gerettet hätte, wärst du nach Aminas gebracht worden. Die Tempelsöhne hätten dich durch die schmutzigen Straßen gezerrt, die Bewohner dich beschimpft und mit Unrat beworfen. Dann wärst du in den Kerker geworfen und entkleidet worden. Der Kerkermeister von Aminas ist ein berüchtigter Mann, der angeblich Kinder als … Gefährten gegenüber älteren Gefangenen bevorzugt. Er hätte dich sicherlich… “
„Hör auf!“, rief Iliana verzweifelt. „Das sind doch nur die Kerker! Im normalen Leben geschieht so etwas nicht! Außerdem hat Sitraxa auch Kinder gefoltert!“
Berith nickte wie ein Weiser, der einen geistig Umnachteten bemitleidete. „Das war zu Irodeus‘ Zeiten. Weshalb, glaubst du, war Sitraxa so erpicht auf Beute, als ihr ihre Höhle betratet? Azrael hat jedem verboten, ohne Befehl zu handeln. Unsere Willkür wurde dadurch mehr oder minder in Fesseln geschlagen.“
„Trotzdem!“, rief Iliana unbeugsam. „Wer gibt euch das Recht dazu, eine solche Hölle zu erschaffen?“
„Wer gibt Gott das Recht dazu?“
Berith ließ die Worte wie beiläufig erklingen, so als spräche er über das Wetter.
Iliana schluckte. „Er … er hat uns erschaffen.“
„Dürfen Eltern ihre Kinder foltern, nur weil sie durch ihre Liebe ins Leben traten?“ Beriths Stimme wurde schärfer.
„Was weiß denn ich!“, rief Iliana und vergrub ihr Gesicht in Händen. „Lass mich doch einfach in Ruhe! Ich will nicht mehr an euch denken, ihr seid böse!“
„Glaubst du, wir sind gerne, wie wir sind?“, fragte Berith. Nun klang er beinahe menschlich. „Vor meinem Tod war ich der glückliche Vater von sieben Kindern und der Ehemann einer wunderbaren Frau. Meine einzige Sünde war die Neugier, die mich zur Alchemie brachte. Ich wollte den Stein der Weisen finden und alle Nöte beenden. Ungerechtigkeit, Krieg und Hass sollten durch meine Forschung für immer aus der Welt verschwinden! Aber was geschah?“ Trauer zerschmetterte die kühle Maske des Dämons. „Eine Seuche suchte meine Heimat heim und die Menschen brauchten einen Sündenbock. Also suchten sie verzweifelt nach Leuten, die anders als sie selbst waren. Sie töteten Heiden, Einsiedler und fahrendes Volk und als die Seuche immer schlimmer wurde, töteten sie sogar deren Kinder. Doch als schließlich niemand von diesen mehr übrig war, kamen sie auf mich. Meine Familie fiel vor meinen Augen wütenden Fäusten zum Opfer und ich fand mich mit einem Mal an einem entlegenen Ort wieder, geflügelt und entstellt, als Dämon gebrandmarkt.“
Iliana sah ihn aus traurigen Augen an. Sie konnte nicht sprechen.
„Euer Gott hat euch die Freiheit geschenkt“, fuhr Berith fort. Seine Miene fand langsam wieder zu ihrer kühlen Form zurück. „Aber er hat nicht bedacht, dass der Mensch schlichtweg für die Freiheit ungeeignet ist. Die Denomination kann mit der Hölle drohen, soviel sie will. Jeder Mensch macht aus der Religion etwas anderes, wenn ihn niemand genügend anleitet. Predige Frieden und sie kämpfen gegen andere Völker, predige Nächstenliebe und sie zerfleischen sich gegenseitig, predige Mitgefühl und sie hetzen die Armen.“ Iliana fühlte sich an ihre unbedeutende Randexistenz nach Arinhilds Hinrichtung erinnert. Ein ungeschriebenes Gesetz erklärte sie für vogelfrei. Jugendliche und andere Kinder rotteten sich zusammen und spielten ihr schreckliche Streiche oder bedrohten sie. Ihre Eltern und Großeltern saßen daneben, unterbrachen ihre Arbeit und betrachteten die Szenerie lachend. Immer endete es gleich. Iliana lief weinend davon, oftmals am ganzen Körper schmutzig und geschunden. Allein Halgin und der Heidenwald boten ihr Schutz vor ihren Peinigern.
Berith schien ihre Gedanken zu lesen, denn kurz funkelte Mitleid in seinen roten Augen.
„Wir bieten Stabilität. Azrael ist unsterblich, also wird er seine Fehler nicht wiederholen. Er wird zu einem neuen Gott werden, zu einem immer präsenten Wächter von Recht und Ordnung. Keine Kriege, keine unrechtmäßigen Verfolgungen. Verbrecher werden in eine reale, wirkliche Hölle geworfen, die niemand verleugnen kann. So, und nur so, kann diese Welt zu einem friedvollen Ort werden. Wir müssen den Menschen ihre Freiheit nehmen.“
Iliana nickte langsam. Dann schluckte sie. „Wieso musstet ihr Halgin bekämpfen?“
Beriths Augen verengten sich zu Schlitzen. „Dein König hätte uns im Weg gestanden. In seinem Alter wird man oft zu starrsinnig, um Veränderungen hinzunehmen. In seinem Weltbild konnten wir nur als die Bösen existieren. Aber in Wirklichkeit lassen sich Gut und Böse nicht voneinander trennen. Sie sind miteinander verwoben.“
Berith erhob sich und spreizte die Flügel. „Wir werden das Lager der Tempelsöhne in drei Tagen zerstören. Du musst eine Entscheidung treffen. Gehe nach Hrandamaer und suche in Hrandars Faust nach einer Frau namens Ashaya. Sie wird dir alle Informationen geben, die du brauchst.“
Ehe Iliana reagieren konnte, verschwand Berith in einem Wirbel schwarzen Rauchs. Im nächsten Moment erwachte sie schweißgebadet im Lazarett.
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„Hat es funktioniert?“, fragte Malfegas. Flammen stoben aus dem Maul des gewaltigen Löwen.
Berith nickte, während er sich langsam aus dem schwarzen Wasser erhob. Der große See Sökkvar bildete den tiefsten Punkt Hornheims. Wenn man in den dunklen Fluten badete, manifestierte sich die uralte Macht dieses Ortes in jedem unterschiedlich. Berith erhielt so die Fähigkeit, in fremde Gedanken einzudringen.
Er ließ den Blick über die glatte Fläche schweifen. Selbst ein Dämon sollte davon absehen, die Mitte des Sees erreichen zu wollen. Man erzählte sich, Sitraxa habe es versucht und dort ihren Verstand verloren.
Malfegas folgte seinem Blick und schnaubte.
„Da soll er begraben sein, nicht wahr?“, fragte er, wobei Schwefelgestank sein hartes Fell einhüllte. „Der alte Androg?“
Beriths Flügel zuckten. Er war dankbar, ihre Bewegungen immerhin im Traum unter Kontrolle zu haben. „Das ist nur eine Legende. Androg war lediglich ein närrischer König, der seine Heimat verdammte. Es erscheint mir wahrscheinlicher, dass seine Gebeine an einem gottlosen Ort im Norden der Ewigkeit entgegenstreben.“ Er räusperte sich. „Die Kleine wird sich sicher bald nach Hrandamaer aufmachen. Unser Kontaktmann im Lager wird dafür Sorge tragen.“
„Was tun wir, wenn sie sich gegen uns entscheidet?“, fragte Malfegas misstrauisch. „Können wir uns darauf verlassen, dass Ashaya sie in die richtige Richtung lenken wird?“
Berith lächelte. Er tat dies nur selten, aber beim Gedanken an diese Frau konnte er nicht anders. „Ich kenne sie. Es ist schwer vorstellbar, dass sie die Menschheit sympathischer wirken lässt. Aber dies ist jetzt gleichgültig.“ Berith sah zwei Hrandar, die eine Rüstung aus schwarzem Stahl zu ihm trugen. „Ist sie das?“
Malfegas‘ Schwanz peitschte stolz hin und her. Er glich einer Schlange, die jedoch kein Eigenleben besaß. Jedenfalls nicht mehr.
„Blutstahl“, verkündete Malfegas. „Er ist in meiner Schmiede entstanden. Eine bessere Rüstung hat auch unser König nicht.“
Berith nickte und atmete tief durch. Er unterbrach seine Forschung nicht gerne, aber Folkvang war erwacht und auch er musste zu den Waffen greifen.
Die beiden Dämonen erklommen gerüstet die Stufen zum Thronsaal, um eine wüste Welt zu korrigieren.