Gottes Hammer: Folkvang II
Iliana war einem Albtraum entkommen, nur um in einem anderen zu landen.
Erschöpft und kraftlos brachte sie nicht mehr die nötige Kraft zur Gegenwehr auf. Der Bogen, den sie dem toten Novizen in der Kutsche aus den klammen Fingern gerissen hatte, blieb ebenfalls verschwunden.
Ebenso wie Halgin.
Iliana und Esben saßen in einem großen Zelt der Tempelsöhne an einem Tisch, der die nahe Umgebung darstellte. Üblicherweise versammelten sich hier wohl die Hauptleute des Heeres, in diesem Moment waren jedoch nur sie und Medardus anwesend. Vor dem Eingang warteten die beiden Ritter, die sie gefunden hatten.
Der Inquisitor musterte sie mit seinen lodernden Augen, bis sein Blick auf Esbens Buch verharrte. Der ehemalige Priester klammerte es an sich wie einen Schatz.
Iliana Hände schlossen sich verkrampft um die Armlehnen ihres harten Stuhls. Sie mussten einen jämmerlichen Anblick bieten. Sie schluckte. Würde Medardus sie wiedererkennen?
Nach einer Zeit, die ihnen wohl die unerträgliche Ewigkeit demonstrieren sollte, ergriff Medardus wieder das Wort.
„Ihr behauptet also, mit dem heidnischen König und dem Söldner Teshin in Hornheim gewesen zu sein?“ Er flüsterte beinahe und dennoch durchdrangen die Worte Ilianas Körper wie schmerzende Druckwellen. Diesem Mann kein Gehör zu schenken, wirkte unmöglich.
Esben beeilte sich zu nicken. Er hatte die Geschichte wahrheitsgetreu wiedergegeben. Lediglich den Tod der Tempelsöhne in der Kutsche und ihre eigentlichen Gründe für die Expedition ließ er aus.
„Und Ihr wolltet diese Dämonen … vernichten, liege ich richtig?“, fragte der Inquisitor weiter.
„In der Tat“, erwiderte Esben hastig. „Wir konnten nicht ahnen, dass Ihr mit einem derartig großen Heer naht. Sonst hätten wir sicherlich auf Euch gewartet.“
Medardus nickte langsam. Dann deutete er unvermittelt auf den großen Folianten. „Der siebte Band aus König Androgs großer Chronik. Ich bin ehrlich beeindruckt. Ich hielt ihn immer für verschollen.“
Esben starrte ihn überrascht an. „Ihr kennt dieses Buch?“
„Natürlich. Jeder Bischof muss Kenntnis von verbotenen Büchern haben, die den Glauben der Menschen ins Wanken bringen könnten.“
Ilianas Herz gefror. Der Inquisitor hatte ihnen eine Falle gestellt und Esben war blind hineingetappt. Panik verdunkelte Esbens Blick.
Medardus räusperte sich. Ein Blitz schien seine Augen zu teilen. „Genug von diesem Geplänkel“, sagte er noch leiser. Ein drohender Unterton schlich sich in seine Stimme. „Ich weiß sehr genau, wer Ihr seid. Esben, ein Priester von Aminas, dessen Schwester ich der Gerechtigkeit hätte zuführen sollen. Ihr werdet mittlerweile in vier Herzogtümern amtlich gesucht. Nicht nur aufgrund Eurer Dienstverweigerung, sondern auch wegen gewisser alchemistischer Experimente.“ Esben senkte den Blick, als Iliana ihn überrascht ansah.
„Und Iliana von Raureif“, fuhr Medardus fort. Iliana erstarrte zur Salzsäule. Er erkannte sie tatsächlich! „Du standest schon während des Falls deiner Ziehmutter unter dem Verdacht der Hexerei.“ Er räusperte sich. „Teshin ist ebenfalls kein Unbekannter. Er hat einen Mordanschlag auf mich verübt und damit die Verbrennung einer gewissen Hexe verhindert …“ Dabei fiel sein Blick auf Esben, der das Buch noch stärker an sich drückte. „Ihr seid euch hoffentlich bewusst, dass ich euch hier an Ort und Stelle hinrichten lassen könnte, ohne dass mir jemand Vorwürfe machen würde?“
Esben erwiderte nichts. Als das Schweigen unerträglich wurde, zerbrach etwas in Iliana und sie erhob sich. Ihre zu Fäusten geballten Hände bebten.
„Dann tut es doch! Verbrennt uns wie all die anderen! Richtet uns hin! Euer Gott wird sich freuen über so einen frommen, tüchtigen Mann …“
„Iliana!“, rief Esben schockiert. Aber Iliana beachtete ihn nicht. Die Wut loderte hoch in ihr wie ein Leuchtfeuer. Sie kam gerade aus der Hölle, sie hatte gegen Sitraxa gekämpft, sie war von Dämonen angegriffen und von einem Verbündeten verraten worden. Dazu blieb ihre einzige Vertrauensperson verschwunden! Das Leben hatte gewaltsam auf sie eingeprügelt, nun musste sie zurückschlagen, ehe der Zorn sie von innen heraus auffraß.
Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann erhob sich auch Medardus. Langsam, beinahe quälend langsam richtete er sich auf und griff zu seinem Mauritiusstab. Angst löschte die Flammen des Zorns in Iliana. Nun war ihr Leben wohl tatsächlich verwirkt.
Dann geschah das Unerwartete: Medardus lachte.
Es handelte sich um einen widernatürlichen, schrecklichen Laut, der Iliana durch Mark und Bein fuhr. Sie taumelte und wich zurück, bis sie gegen den Stuhl stieß und ungelenk auf die harte Sitzfläche fiel.
„Ich wäre ein Narr, euch beide zu töten!“, knurrte Medardus schließlich. „Ein tüchtiger, frommer Mann? Mädchen, werde erwachsen. Oder glaubst du wirklich, ich verbrenne Frauen, weil ich an Hexen glaube?“ Damit wandte er sich ab. „Ich erwarte von euch einen genauen Bericht über Hornheim und seine Bewohner. Esben, fühlt Euch in Euer Amt als Priester wieder eingesetzt. Zudem ernenne ich Euch zu einer Schutzwache des Tempels, was Euch die Befugnis gibt, an diesem Feldzug teilzunehmen.“ Einen Augenblick lang herrschte Stille. „Ihr werdet den Rittern von Hrandamaer zugeteilt. Wagt es nicht zu desertieren.“ Damit scheuchte er sie hinaus.
Iliana wurde die Welt fremd, als sie aus dem Zelt stolperte. Bis zu diesem Augenblick hatte sie Medardus für einen religiösen Eiferer gehalten und nun nahm er zwei offenbare Ketzer in sein Heer auf?
Vor ihnen standen die beiden Tempelsöhne, die sie gefunden hatten. Der jüngere von beiden hieß Lifas und wirkte viel zu schmächtig für den gewaltigen Streithammer auf seinem Rücken. Weißblonde Haare umrahmten sein Gesicht. Abigor hingegen ähnelte eher einem Bären.
Esben setzte gerade zu einer Erklärung an, doch Abigor schnitt ihm brummend das Wort ab. „Kommt mit.“
Iliana folgte ihnen überrascht. Hatten die beiden etwa alles gehört?
Lifas negierte diese Theorie. „Onkel? Wie lauten unsere Befehle?“
Abigor gab einen unverständlichen Laut von sich, bevor er zu einer Erwiderung ansetzte. „Die beiden sind ab jetzt Soldaten und kommen bei uns unter.“
Lifas blinzelte überrascht. „Soldaten?“ Er musterte sie. „Sicher?“
„Frag mich nicht.“
Abigor und Lifas brachten sie zu einem weiteren Zelt, das ebenfalls auf der großen Lichtung stand. Iliana sah im Dunkel der Nacht die hellen Flecken zweier Navali. Der Anblick gab ihr Halt in einer Situation, die sie vollkommen überforderte.
Zu ihrer Überraschung betraten sie nicht die Unterkunft der Ritter aus Hrandamaer, sondern ein Lazarett. Eine einzige, junge Nonne stand darin an einem Tisch und bereitete offenbar eine Kräuterpaste zu.
Abigor nickte Lifas zu. „Pass auf die beiden auf. Nicht, dass deine Schwester ihnen noch mehr Schaden zufügt.“
Die Nonne sah auf und ein beleidigtes Funkeln trat in ihren Blick. Dennoch schwieg sie.
Lifas legte den Kopf schief. „Und was macht Ihr, Onkel?“
„Schlafen“, brummte Abigor. „Das machen Menschen normalerweise in der Nacht, weißt du?“
Mit einem Lachen, das Iliana das Blut in den Adern gefrieren ließ, wandte er sich ab. Lifas seufzte. Dann fiel sein Blick auf die Nonne.
„Elinor“, sagte er müde. „Kannst du dich bitte kurz um die beiden kümmern? Sei so nett. Vielleicht sind sie verletzt, sie kommen gerade aus Hornheim.“
Elinor schürzte die Lippen. „Immerhin bittest du mich.“
„Habt Dank.“ Esben verneigte sich. „Aber bitte untersucht zuerst Iliana.“
Unter normalen Umständen hätte Iliana vielleicht protestiert, doch die Ereignisse degradierten sie zu einer schwachen Marionette in den Händen des Puppenspielers namens Leben. Das Schicksal der Welt wirkte mit einem Mal fern, so als ob Iliana immer noch ein unwissendes Mädchen in Raureif wäre, das nie mit Königen, Dämonen oder Magie in Berührung gekommen war.
Elinor winkte Iliana und bedeutete ihr, sich auf ein schmales Feldbett zu legen, wobei sie Esben und Lifas aus dem Zelt scheuchte. „Zieh dich bitte aus.“
Iliana leistete dem Befehl Folge. Elinor musterte sie mit einer Art von grimmiger Besorgnis. „Gott Vater, ein Kind“, murmelte sie. „Haben die Dämonen dich entführt, Mädchen?“
Iliana schüttelte den Kopf, während sie sich entkleidete. „Ich bin ihnen freiwillig entgegengetreten. Wir haben gegen sie gekämpft …“
„Du hast gegen sie gekämpft?“ Elinor klang ungläubig. „Leg dich hin. Nein, auf den Bauch. Keine Angst, was du jetzt spüren wirst, sind die heilenden Hände unseres Herrn.“ Sie murmelte ein Gebet in der Alten Sprache, dann legte sie Iliana die Hände auf den Rücken.
Iliana fühlte angenehme Wärme. „Seid Ihr eine mächtige Magierin?“, fragte sie leise, während die heilenden Hände scheinbar ihre Rippen abtasteten.
„Blaue Flecken, eine Prellung … Wie? Nein.“ Elinor klang verbittert. „Frauen dürfen die heilige Magie nicht einsetzen.“
„Was tut Ihr dann im Moment?“, fragte Iliana verwundert.
„Ein Bluterguss … Mädchen, das ist doch keine heilige Magie, das ist nur ein kleiner Zaubertrick, den sogar schon die Heiden beherrschten. Medardus könnte dich mit einem Fingerschnippen vollständig läutern!“
„Läutern?“
„Alle schwarze Magie von dir nehmen und dich von ihren Auswirkungen heilen …“
„Kann er auch Blutergüsse heilen?“
„Das ist unter seiner Würde“, erwiderte Elinor. „Du hast einige mindere Wunden. Bist du in letzter Zeit oft gestürzt?“
„Nun ja …“ Iliana dachte an die Druckwellen, die der Kampf zwischen Halgin und Azrael hervorgerufen hatte. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken mehr als ihr Körper. „Sozusagen.“
„Armes Kind“, seufzte Elinor. „Nichts Ernstes, aber es wird noch eine Weile schmerzen. Versuche, dir ein wenig Ruhe zu gönnen.“
„Muss ich keine Salbe auftragen?“
Elinor schüttelte den Kopf. „Die heilenden Hände des Herrn haben das Ihre bereits getan. Alles, was die Wunden jetzt noch brauchen, ist Zeit.“ Sie schwieg kurz, dann fragte sie: „Ich arme Sünderin mache mich wohl der Neugier schuldig, wenn ich frage … aber weshalb seid ihr hier? Werdet ihr etwa bei uns bleiben, wenn die Schlacht kommt?“
Iliana nickte langsam. „Esben muss kämpfen. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird.“ Dabei drehte sich ihr Magen um. „Ich weiß überhaupt … nichts.“
Dabei musste sie schlucken. In diesem Moment der Ruhe, in dem alle unmittelbaren Gefahren für ihr Leben überstanden schienen, überkam die Erinnerung sie wie ein hungriges Ungeheuer. Was sollte nun aus ihr werden? Halgin war vielleicht tot, Teshin ein Verräter, Medardus wollte sie offenbar nur benutzen und nach Raureif konnte sie auch nicht zurück. Ihr Leben schien in Scherben vor ihr den Fußboden zu zieren.
Ehe Iliana reagieren konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie begann zu schluchzen. Nach Arinhilds Hinrichtung hatte sie sich eigentlich geschworen, nie wieder zu weinen, aber nun brachen alle Dämme.
Iliana erduldete die Qualen der Trauer allein auf dem Feldbett, bis sich Arme voller Mitgefühl um sie schlossen.
„Alles wird gut“, murmelte Elinor.
Ein lange verloren geglaubter Teil kehrte in Ilianas Herz zurück.
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Rotes Licht spiegelte sich in den metallenen Ketten, als sie die schmächtige Gestalt heraustrugen.
Beriths Flügel zuckten. Selbst nach beinahe zweihundert Jahren in dieser Gestalt hatte er sie noch nicht vollkommen unter Kontrolle. Er erlaubte sich diese Unachtsamkeit dennoch angesichts der Situation.
Drei Schattendiener oder Hrandar, wie man sie in der Alten Sprache nannte, trugen Velis langsam durch die Tür. Berengar folgte ihnen mit sorgenvoller Miene. Die Herzogin lag zitternd auf der Bahre, mit dem Gesicht nach unten, um ihre Tränen zu verbergen.
Niemand musste Berith erklären, was vorgefallen war. König Azrael hatte versprochen, sie von ihrem Sklavenmacher zu befreien. Keine Tortur vermochte einen Dämon zu brechen, aber dieses schlichte Schmuckstück konnte sich dieser Fähigkeit durchaus rühmen. Ein Blick auf Velis‘ Nacken verriet Berith, dass auch dieser Versuch gescheitert war.
Als er den kleinen Raum betrat, fand er Azrael in gedrückter Stimmung vor.
Sie befanden sich in einem Verlies, das zu Irodeus‘ Zeiten zur persönlichen Erheiterung des Königs gedient hatte. Drei Wörter in der Alten Sprache schmückten die Wände: Sünde, Verfall und Marter. Dabei handelte es sich um einen Auszug aus Sankt Esbens Bußlehre, der jedoch nicht vollständig war. Dass der Tod fehlte, verriet bereits Irodeus‘ Grausamkeit.
Azrael saß auf einem einfachen Schemel, neben ihm verkündete eine Streckbank stumm finstere Botschaften.
Beriths Blick fiel auf das hölzerne Folterinstrument. „Verzeiht, wenn ich frage, Herr, aber ich dachte, Ihr wolltet diesen Raum nicht mehr für die Marter benutzen?“
Azrael hob den Kopf. Sein ermatteter Blick schien Berith kaum zu streifen. „An diesem Beschluss hat sich auch nichts geändert“, flüsterte er. „Aber ich musste Velis fixieren.“ Dabei deutete er auf die vier durchgerissenen Eisenketten, die halb gelöst aus dem Holz hingen. „Sie hat sich dennoch losgerissen.“
„Ich habe die Kettenringe an ihren Handgelenken bemerkt“, erwiderte Berith emotionslos. Dennoch ließ ihn ein Schauer erzittern. Velis mochte wie ein Kind wirken, doch ihre Schmerzgrenze lag ungemein hoch. Er konnte ihre Qualen nicht einmal ansatzweise ermessen.
Als Azrael weiterhin schwieg, räusperte sich Berith vernehmlich. „Funktioniert meine Methode nicht?“
Azrael schnaubte. „Berith, deine Fähigkeiten in Ehren, aber diesmal bist du einem Narren aufgesessen. Auf diese Weise würde ich sie höchstens töten!“
Berith seufzte. Diese Aussage entsprach nicht der Wahrheit, aber dies schien ihm nicht die rechte Zeit für einen intellektuellen Disput zu sein. Dennoch. Ein anderes Anliegen musste er vorbringen …
„Majestät“, begann Berith langsam. „König Halgins Begleiter sind sicher im Lager der Tempelsöhne angekommen. Wie erwartet, will der Inquisitor sie im Kampf einsetzen. Beginnen wir mit der Offensive?“
Azrael sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Willst du mich zum Narren halten? Du weißt, es ist noch nicht alles bereit. Velis sollte zuerst ihren Sklavenmacher loswerden und ich … ich muss mich erst um die Stimme kümmern.“ Dabei legte er einen Finger an den Mund, so als wollte er jemanden zum Schweigen bringen.
Berith legte den Kopf schief. „Sie ist noch da, Herr? In Eurem Kopf?“
Azrael nickte langsam. „Wer mag das nur sein … ?“, murmelte er. „Selbst während meiner Zeit ohne Erinnerungen war sie noch präsent.“ Er räusperte sich. „Wie dem auch sei. Wie gesagt, wir müssen zunächst die Vorbereitungen abschließen …“
„Folkvang ist erwacht.“ Berith ließ nur selten Gefühle zu, doch diesmal konnte er das Zittern aus seiner Stimme nicht verbannen.
Kurz breitete sich Schweigen aus. Rote Blitze schienen Azraels Augen zu spalten. Dann seufzte er und nickte langsam.
„Sammle alle Herzöge. Wir greifen an.“
Erstaunen überkam Berith. „Seid Ihr sicher? Wir sollten wenigstens unserem Kontaktmann im Heerlager Bescheid geben …“
„Er hört zu, während wir sprechen. Seine Gedanken sind mit den meinen verbunden.“ Azraels Augen funkelten. „Aber du hast recht. Eines müssen wir vor dem Kampf tatsächlich noch erledigen. Initiiere das erste Treffen.“
Berith nickte und verneigte sich. Er gestattete sich keine wertenden Gefühle in Bezug auf diese Anweisung. Er war ein Verfechter von Wissenschaft und Logik. Niedere Emotionen standen ihm dabei nur im Weg.
Berith wandte sich ab. Nun würde er die Rettung der Welt vorantreiben.