Gottes Hammer: Folkvang I
Die hohen Bäume des Heidenwaldes schienen sie zu bedrängen, als sie in ihre Schatten ritten. Eine nahezu unnatürliche Stille beherrschte das gottlose Gebiet. Dennoch vermittelten die umherhuschenden Schatten im Dickicht Lifas das Gefühl, von Dämonen umkreist zu werden.
Aufregung beschleunigte seinen Puls. Seine Hand zuckte zu dem Streithammer an seiner Seite. Er brannte regelrecht darauf, seine Kampfkraft unter Beweis zu stellen.
Abigor entging die Geste nicht. Obwohl sein Onkel nur noch ein Auge besaß, verfügte er über das unfehlbare Talent, jede Bewegung wahrzunehmen.
„Du bist nervös.“ Das war keine Frage.
Lifas seufzte. Vor seinem Onkel konnte er nichts verbergen. „Das ist das erste Mal, dass ich gegen Dämonen kämpfen werde.“
Abigor schnaubte und zügelte sein Pferd, sodass sie nebeneinander über den Waldboden trabten. „Wenn ich für jeden meiner Kämpfe gegen einen falschen Dämon einen Heller bekommen hätte, wäre der Tempel längst reicher als alle anderen Abteien der Denomination zusammen. Glaub nicht alles, Neffe.“
Lifas nickte langsam, war aber nicht überzeugt. „Aber, Onkel“, begann er zaghaft und deutete auf die zahlreichen gepanzerten Gestalten, in deren Mitte sie den düsteren Wald durchquerten. „Wir reiten nach Hornheim! Und außerdem habt Ihr doch selbst gesagt, dass dies das erste Heer in der Geschichte des Reiches ist, das nur aus Tempelsöhnen besteht.“
„Aus alten Knackern und kleinen Hüpfern“, korrigierte Abigor und deutete mit dem Kinn auf Lifas. Dabei blitzte das goldene Siegel über seiner rechten Augenhöhle. Es wies kunstvolle Lettern in der Alten Sprache auf und verbarg eine grässliche Wunde.
Altbekannter Trotz überkam Lifas. Er zählte bereits siebzehn Jahre, war aber seit seiner Einweisung in den Novizenstand der Tempelsöhne nicht wesentlich gewachsen. Viele ergriff großes Erstaunen, wenn sie seine schmächtige Gestalt mit dem gewaltigen Streithammer sahen. Lifas lächelte grimmig. Er trug große Kraft in sich.
Abigor grinste breit. „Kräm dich nicht, Junge. Immerhin bist du sonst sehr ansehnlich. Sieh dir dagegen mich an …“ Er seufzte resigniert.
Man erzählte sich viele Geschichten über Abigor von Hrandamaer, jedoch nicht seiner Schönheit wegen. Lifas‘ Onkel war ein kräftiger, hochgewachsener Mann mit einem vernarbten Gesicht und zottigen Haaren, die mehr an ein Bärenfell erinnerten. Das fehlende Auge trug ebenfalls nicht zur Ästhetik bei.
Lifas hingegen hatte das Aussehen seines Vaters geerbt. Die edlen Gesichtszüge und das weißblonde Haar erinnerten ihn stets an den gealterten Fürsten.
Dennoch, Attraktivität war lediglich eine Versuchung des Widersachers. Lifas hatte seinen Lockrufen bereits vor Jahren entsagt.
„Ihr wisst, dass mir Schönheit nichts nützt“, erinnerte er Abigor. „Als Tempelsohn muss man keusch bleiben.“
Abigor schnaubte lediglich. Ein anderer Ritter, der direkt vor ihnen durch den Nadelwald trabte, wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihm um.
„Schön, dass es noch solche Unschuld in unseren Reihen gibt“, murmelte er, während ein trüber Schleier seinen Blick verhüllte.
Lifas errötete. Er war doch nicht naiv, er hielt sich lediglich an die von Gott festgesetzten Regeln!
Plötzlich durchtsieß ein Horn die kühle Abendluft. Es handelte sich um einen Sammelruf für die wichtigsten Apostel des Ordens. Abigor gab seinem Ross die Sporen und folgte dem Signal. Lifas jagte ihm hinterher. Sein Onkel hatte ihm erlaubt, ihn zu den Versammlungen zu begleiten.
Die Rangordnung der Tempelsöhne unterschied sich auf mannigfaltige Weise von der eines normalen Heeres. An der Spitze stand der Clavis, der mindestens den Rang eines Bischofs bekleiden musste. Ihn berieten die sogenannten Apostel, deren Zahl je nach Größe des Heers variierte. Auch sie waren Bischöfe.
Als Kind hatte Lifas nur alte Bischöfe gekannt, die in prächtigen Gewändern Zeremonien abhielten. Sein Onkel unterschied sich dermaßen stark von ihnen, dass Lifas seinen Rang nur schwer mit seinem Äußeren in Einklang bringen konnte. Dennoch, Abigor war ein Gelehrter der Denomination und ein Krieger. Er hatte sich nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch in gelehrten Disputen einen Namen gemacht.
Eben aus diesem Grund brüskierte Lifas die vulgäre Ausdrucksweise seines Onkels immer wieder aufs Neue. Dass dieser Mann der Bruder seines ruhigen und stets majestätischen Vaters war, erschien ihm noch immer befremdlich.
Endlich erreichten sie die Mitte des Heeres. Die Apostel versammelten sich auf einer großen Lichtung, während mehrere Novizen das Zelt des Clavis errichteten. Kein Tier ließ sich blicken, nur mehrere schwarze Vögel mit hellen Punkten auf den Köpfen betrachteten sie neugierig.
Lifas erbebte vor Ehrfurcht, als er von seinem Pferd stieg. Er erkannte einige mächtige Helden des Ordens der Tempelsöhne wieder. Sein Onkel empfand jedoch weniger Respekt. Er trat in ihre Mitte, sah sich gelangweilt um und fragte dann ungeniert nach dem Clavis.
Der edle Ritter Mendatius aus dem gefallenen Herzogtum Astaval verwies auf den Rand der Lichtung.
Schlagartig befiel Lifas Kälte. Auf einem kunstvoll geschnitzten Stuhl mit prächtigen Darstellungen der Heiligen saß der Inquisitor Medardus. Er war nicht viel größer als Lifas, aber seine lodernden Augen erstickten jeden Gedanken an Widerspruch im Keim. Als er leicht den Kopf hob, glitzterte die reich verzierte Maske im Licht der untergehenden Sonne. Die bischöflichen Inquisitoren gaben ihre eigene Identität und ihre Stimme auf, um mit aller Kraft Gott dienen zu können.
In diesem Moment umklammerte Medardus seinen Mauritiusstab und klopfte leicht gegen die hölzerne Armlehne des Stuhls. Sofort herrschte auf der Lichtung Stille und die Apostel setzten sich in Bewegung. Selbst Abigor wirkte unterwürfig.
Als Lifas nähertrat, nahm er mächtige Energien wahr, die gleich einer strahlenden Wolke den kunstvollen Stuhl umhüllten. Die Ströme glichen denen im Heiligtum einer Kirche. Wie Lifas wohl wusste, konnten die Inquisitoren nur an einem solchen Ort ihre Stimme benutzen.
Medardus sprach leise und dennoch trugen seine Worte bis an den Rand der Lichtung. Die Geräusche des Waldes verstummten und selbst die Tiere schienen ihm zu lauschen.
„Hornheim liegt kaum eine Tagesreise entfernt“, teilte Medardus ihnen mit. „Feindkontakt wird bald erfolgen. Die Dämonen sind jedoch nicht unsere einzigen Feinde,“ Seine Augen loderten auf wie eine mächtige Flamme. „Die geplagten Bürger des nahen Dorfes, das ich schon einmal von einem großen Übel befreit habe, berichten von einem sagenumwobenen König. Dieser Mann soll hier im Heidenwald in einem verborgenen Palast herrschen und heidnische Götter anbeten. Angeblich begleiten ihn schwarze Raben auf Schritt und Tritt.“
Lifas warf den dunklen Vögeln mit den hellen Punkten einen nervösen Blick zu. Täuschte er sich oder wirkte es tatsächlich so, als würden sie die Versammlung beobachten?
„Bis heute ist der Heidenwald ein gottloses Land“, fuhr Medardus fort. „Wir werden kein Risiko eingehen.“ Dabei wandte er sich an Abigor. „Abigor von Hrandamaer, Ihr kundschaftet auf gewohnte Weise den Weg aus. Lasst Euch auf keinen Kampf ein. Weder wissen wir viel über die Dämonen, noch über diesen König. Vielleicht steht er sogar auf unserer Seite, vielleicht ist er auch nur eine Legende.“
Abigor nickte ergeben. „Ja, Eure Eminenz. Nur …“ Er zögerte sichtlich. „Bitte gestattet mir eine Frage.“
Medardus‘ Augen blitzten, doch er nickte.
Abigor räusperte sich. „Ist es sicher, dass sich Gottes Hammer in Hornheim befindet?“
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann erhob sich Medardus und verschwand wortlos im von den Novizen errichteten Zelt.
Der Mond tauchte den Wald bereits in silbriges Licht, als sie aufbrachen.
Normalerweise glich es einer Torheit, ein Land bei Nacht zu erkunden, besonders wenn der Feind mit der Hölle im Bunde war und – wie jeder wusste – daher die Dunkelheit schätzte. Doch Abigor und Lifas waren keine normalen Soldaten, sie waren nicht einmal normale Ordensritter. Als Söhne des nördlichen Herzogtums Hrandamaer fanden sie sich in der Finsternis beinahe besser zurecht als im Licht.
Lifas schluckte. Er wurde nicht gern an seine Herkunft erinnert. Wie zur Bestätigung fuhr jäher Schmerz durch die gewisse Stelle auf seinem Rücken.
In der heidnischen Zeit waren sie wie Tiere gewesen. Erst die Religion hatte sie zu Menschen gemacht.
Die beiden bewegten sich ohne ihre Pferde. Sollte es tatsächlich zum Kampf kommen, wären sie ihnen ohnehin nicht von Nutzen. Im engen Dickicht erfüllten Schlachtrösser ihre Rolle nur sehr begrenzt.
Keine Menschenseele begegnete ihnen. Auch die dunklen Vögel mit den hellen Flecken auf dem Kopf ließen sich nicht blicken. Dennoch blieb Lifas wachsam. Dämonen waren Meister der Täuschung, hieß es. Hornheim lag zwar noch einige Meilen entfernt, aber wer konnte schon ermessen, wie stark der Einfluss der Hölle in diesen gottlosen Landen wirklich war?
Mit einem Mal erreichten sie eine Lichtung.
Lifas blickte erstaunt auf die Ruine einer alten Kirche. Im Heidenwald gab es doch keine Kirchen!
Abigor dachte ähnlich, denn er zog sein Schwert und näherte sich vorsichtig dem verfallenen Gebäude. Das Gotteshaus musste bereits seit etlichen Jahrhunderten verlassen worden sein, denn Pflanzen überwucherten die steinernen Mauern. Lifas betrachtete neugierig den Innenraum. Das Dach war zu kleinen Teilen noch vorhanden.
„Sieh dir das an, Neffe.“ Lifas wandte sich überrascht um. Abigor klang beinahe ehrfurchtsvoll.
Der Veteran zeigte auf eine Inschrift in der Alten Sprache. Lifas kniff die Augen zusammen und trat näher. Erregung überkam ihn, als er den Namen Sant Esben entzifferte!
„Ist das die erste Kirche?“, hauchte er ergriffen. „Die, die Sankt Esben nach seiner Vision erbaute?“
Abigor nickte nur. Er murmelte ein kurzes Gebet, in dem er dem Herrn für ihre Entdeckung dankte. Ergriffen wich Lifas zurück. Die erste Kirche war legendär! Sicher handelte es sich hier um ein Omen. Ihre Mission würde den Heidenwald von allem Bösen läutern und das Wort Gottes auch hier zum Gesetz machen!
Plötzlich unterbrach ein Stöhnen seine Gedanken.
Es klang leise und schwach, wie von einer verletzten Person. Lifas und Abigor tauschten einen entschlossenen Blick, dann umrundeten sie mit gezogenen Waffen die Kirche. Stellten ihnen die Dämonen eine Falle?
Hinter dem Mauerwerk herrschte Dunkelheit. Lifas ließ seinen Blick über die Grasfläche schweifen, konnte jedoch nichts entdecken. Dann hörte er auf einmal, wie jemand scharf einatmete.
Da entdeckte er eine reglose Gestalt hinter einem Felsen.
Es handelte sich um ein Mädchen, kaum dem Kindesalter entwachsen. Es trug schmutzige Kleidung und eine mehrfach geflickte Hose.
„Onkel!“, rief er. „Seht doch!“
„Da ist noch einer“, brummte Abigor. Er deutete auf einen jungen Mann in einer schwarzen Kutte, neben dem ein großer Foliant lag. Abigor beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls.
Lifas‘ Herz klopfte, als er den Atem des Mädchens kontrollierte. Eigentlich hatte er geschworen, einer Frau niemals so nahe zu kommen. Dennoch, auch dieses Mädchen war ein Geschöpf Gottes und der sündigen Flamme neue Nahrung zu geben nur ein geringer Preis für ein Leben, wenn man den Einflüsterungen des Widersachers widerstehen konnte.
Er warf Abigor einen fragenden Blick zu. Sein Onkel besaß einen untrüglichen sechsten Sinn für die Blendwerke von Dämonen. Doch Abigor schüttelte leicht den Kopf. Es handelte sich um Menschen.
Behutsam schob Lifas die Arme unter den dünnen Körper und hob ihn mit Leichtigkeit hoch. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Abigor sich den jungen Mann über die Schulter legte.
„Keine Sorge!“, sagte er zu dem Mädchen. „Wir bringen euch in Sicherheit!“
Ein Zittern durchfuhr den kleinen Körper und das Mädchen hustete. Dann schlug es die Augen auf.
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Die Frau ohne Namen existierte.
Es reichte der Frau, zu existieren. Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte, außer zu atmen und das Leben durch ihren Körper strömen zu lassen.
Die Frau dachte nicht darüber nach, was außer dem Schlaf in der Welt auf sie warten könnte.
Sie kannte nicht einmal ihren Namen und dennoch war sie zufrieden.
Sie existierte.
Mit einem Mal störte sie etwas.
Die Frau sog scharf die Luft ein. Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete sie unregelmäßig. Dieses … etwas … behinderte ihren Schlaf. Dieses etwas wollte sie zurück ins Leben zwingen und ihr Wissen aufdrängen, dass sie nicht haben wollte.
Die Frau wehrte sich dagegen. Sie wollte nichts wissen. Sie wollte schlafen. Schlafen und existieren.
Doch das etwas war unerbittlich. Die Frau ohne Namen konnte ihm nicht mehr widerstehen. Im nächsten Moment und ohne es zu wollen, setzte sie sich auf.
Sie wusste nicht, wie sie hieß.
Sie wusste nicht, wo sie war.
Sie saß in einer kreisrunden Halle ohne Wände. Prächtige Säulen stützten eine vielfach verzierte Decke. Fresken stellten einen Kampf zwischen Engeln und Dämonen dar.
Die Frau erhob sich auf unsicheren Beinen. Als ihre nackten Füße über den steinernen Boden wandelten, verwunderte der entfernte Gedanke die Frau, dass ihr eigentlich kalt sein müsste. Doch ihr war nicht kalt.
Sie hielt an, als sie vor einem weißen Thron im Zentrum der Halle stand. Eine Feder ruhte auf dem prächtigen Sitz.
Die Frau nahm die Feder und betrachtete den Thron.
Auf der Lehne entzifferte sie ein altes Wort in einer Sprache, von der sie nicht wusste, weshalb sie sie verstand.
Folkvang.
Die Frau legte den Kopf schief und sah sich um. Zwischen den Säulen blinzelte ihr der Mond entgegen.
Sie sprach das alte Wort aus. Ihre eigene Stimme war ihr fremd.
Da erhob sich plötzlich ein Sturm. Die Frau hob eine Hand vors Gesicht, um ihre Augen zu schützen. Der Wind erschien ihr schön und schrecklich zugleich, er brannte auf ihrer Haut und umschmeichelte sie, er war trocken und feucht, er brachte Glück und Verderben.
Mit einem Mal schwebte die Feder langsam in die Luft. Die Frau betrachtete überrascht, wie sie zu leuchten begann, wie sie sich immer schneller drehte. Das Leuchten gefiel ihr und sie trat auf die Feder zu und berührte sie.
Im nächsten Moment endete der Sturm und die Frau hielt keine Feder mehr in der Hand. Stattdessen umhüllte ein Panzer aus Mondlicht ihren Körper und schwere Flügel schmiegten sich an ihren Rücken.
Mit einem Mal hatte die Frau einen Namen.