Gottes Hammer XVII
Iliana konnte es nicht fassen.
Jahrelang bestand ihre Welt nur aus Arinhilds Hütte, aus dem kleinen Dorf Raureif und dem angrenzenden Heidenwald. Wenn Reisende von der weiten Welt sprachen, erschien sie ihr wie ein unwirkliches, fernes Gespenst. Wenn die Menschen Geschichten von Hornheim erzählten, erschien es ihr fern und unnahbar, wie ein spektrales Königreich, das kein Mensch je betreten konnte. Raureif war ihre Heimat und nur dort lebte sie. Selbst als Arinhilds Schreie sich wie Dolche in ihre junge Seele bohrten, wirkte der Gedanke an Veränderung lächerlich. Die Hütte ihrer Ziehmutter blieb ihr Heim. Halgin blieb ihr Beschützer.
Nun drohte alles unterzugehen.
Teshins rote Augen musterten sie höhnisch, seine rechte Hand ruhte auf Murakamas Griff. Dieses Wesen war ihr erst vor kurzer Zeit in Raureif erschienen und hatte blutige Ernte unter den Dorfbewohnern gehalten.
Nach ihrem gemeinsamen Kampf gegen Sitraxa wollte Iliana ihm vertrauen. Dieses Privileg gestand sie nur den wenigsten Menschen zu. Doch er, Teshin, hatte sie gerettet, als sie hilflos und von Schmerzen erfüllt im Zauber der Dämonin gefangen gehalten wurde.
Nun drohte all dies unterzugehen.
Schatten schienen aus den Wänden zu wachsen, dunkle, schwere Formen, die das rötliche Licht regelrecht verschlangen. Iliana entdeckte eine Frau mit einem Schlangenleib, einen bleichen Mann mit ledrigen Flügeln, einen Löwen mit sieben Augen und ein fürchterliches Wesen mit drei Köpfen und zahlreichen Mäulern, aus denen Rauch stob. Weitere Dämonen bargen sich in den Schatten und nur ihre Silhouetten schimmerten ihnen entgegen.
Teshins wahrer Name musste sie veranlasst haben, die Halle aufzusuchen. Jeder Dämon konnte ein derart starkes Wort der Macht spüren.
Esben wirkte ebenso fassungslos wie sie. Seine zitternden Hände umklammerten den Folianten halb aufgeschlagen, so als hielte er die Gefahr für surreal und zögerte. Selbst Halgin schien Teshins Verwandlung aus dem Konzept zu bringen. Als der König der Navali das Wort ergriff, klang seine Stimme höher als sonst.
„Genau wie Ihr bin auch ich ein König“, sprach er betont höflich. „Was gedenkt Ihr nun zu tun?“
Teshin – nein, Azrael leckte sich die Lippen und zog blank. „Nun, Ihr seid Halgin der Schwarze, der letzte der verwunschenen Prinzen. Ihr habt zahlreiche Dämonen aus meinem Reich getötet.“ Er lächelte. „Somit seid Ihr ein Feind.“
Iliana sah Halgin überrascht an. Der letzte der Prinzen? Wer waren dann die übrigen Navali?
Halgin flatterte aufgebracht mit den Flügeln. Ein bedrohliches Funkeln trat in seine Augen. „Wenn Ihr wisst, was mit meinen einstigen Leidensgenossen geschehen ist, wisst Ihr auch, dass Ihr in mir keinen einfachen Feind sehen solltet. Zudem entsinne ich mich, dass Irodeus König von Hornheim war, als ich gegen den letzten Feind focht.“ Halgin machte eine kurze Pause, in der sich eine Aura aus Magie um ihn herum aufbaute. „Was ist geschehen?“
Azrael kicherte. Das Gespräch bereitete ihm offenbar großes Vergnügen. „In Aminas gewährte mir die Herzogin Velis einen großen Wunsch, den Irodeus mir niemals erfüllte. Sie gab mir Kraft. Kraft, diese missgestaltete Welt zu verändern.“ Azrael hob die Hand, so als ob er die gesamte Welt umfassen wollte.
„Euer närrischer Gott hat diese Welt geschaffen und er hat die Menschen geschaffen. Letzteres war sein großer, großer Fehler. Er schuf sie nach seinem Abbild, nicht wahr, Esben?“
Azrael kicherte. Esben brachte nur ein kraftloses Nicken zustande.
„Er hat euch alle geschaffen, ohne zu bedenken, dass zwei oder mehr Götter eine Welt zugrunde richten würden. Der Mensch ist ein Gott, er erhebt sich über die Tiere, ohne wirklich je von ihnen frei zu sein, er kann wachsen, er kann lernen, er kann unglaubliche Macht erlangen. Er kann Städte wie Aminas bauen, er kann Magie verwenden. Aber eines konnte der Mensch nie: Frieden finden. So sind die Dämonen entstanden.“
Azrael breitete die Arme aus. „Wir sind all diejenigen, die von diesem Gott namens Mensch zu Leid und Tod verurteilt wurden. Wir sind die gefallenen Seelen, wir sind die Gefolterten und Geknechteten. Nach unserem Tod wurde uns kein ewiger Schlaf gestattet, sondern wir mussten zurückkehren, missgestaltet und mit dunkelsten Kräften verflucht.“ Er grinste. „Ihr erahnt es, Halgin. Ich bin gestorben.“
Iliana starrte die beiden Könige fassungslos an. Nun schien selbst Halgin Unsicherheit zu befallen. „Unmöglich. Man kann einem Menschen zur Unsterblichkeit verhelfen, aber man kann ihn nicht wieder zum Leben erwecken. Der Tod ist absolut.“
Azrael nickte. „In der Tat. Die Dämonie hat Teshin nicht zum Leben erweckt, sondern Azrael als Abdruck seiner Seele hinterlassen.“ Er deutete auf seine Brust. „Ich bin nur ein Echo des Herzogs von Astaval. Ein Echo seines Leids, das die Machtkämpfe der Menschen ihm zugefügt haben. Ein rachsüchtiges Echo, wohlgemerkt.“ Er hob die Stimme und die Worte hallten wie Donnergrollen durch die Halle. „Ich habe Irodeus erschlagen und die Krone Hornheims für mich beansprucht. Ich habe die Bewohner Raureifs gerichtet für ihre zahlreichen Sünden. Hornheim wird sich erheben und die Menschen strafen und sie beherrschen. Wenn kein Gott herabsteigt, um euch Ordnung zu bringen, tun wir es!“ Dabei streckte er die Hand aus. „König Halgin, Ihr seid ein weiser Magier. Ihr habt die Dunkelheit ebenfalls erfahren und schwere Schuld auf Euch geladen. Ihr wisst, wozu Menschen fähig sind. Helft uns! Steht uns bei! Wir werden diesen zerrütteten Reichen Ordnung bringen!“
Bei diesen Worten wirkte Azraels Stimme beinahe wieder menschlich, doch Halgin ließ sich nicht beirren.
„Was ist mit Saskia geschehen?“, fragte er.
Ein roter Blitz zerteilte Azraels Miene. „Sie wollte mein Vorhaben behindern.“
Kurz herrschte Stille. Iliana taumelte. Sie fühlte, wie sie langsam alle Kraft verließ.
Plötzlich trat Esben vor. Er klang beinahe flehentlich.
„Teshin, ich verstehe das alles nicht!“, rief er verzweifelt. „Du bist kein Dämon! Gerade eben warst du doch noch ein guter, frommer Mann …“
„Esben.“ Azraels Stimme glich einem Peitschenhieb. „Wie kannst du nur so närrisch sein? Uns beiden wurde unsere Familie genommen. Wir beide verließen unsere Heimat und begaben uns auf lange Irrfahrten. Du trägst ein heidnisches Buch bei dir, das Dämonen bannen kann. Sag mir, wie kannst du da noch an einen gerechten Gott glauben, der über die Menschen wacht?“
Bei seinen Worten überkam Unruhe die Gestalten in den Schatten. Täuschte sich Iliana oder beäugten sie Esbens Folianten nervös?
Esben indes hatte Tränen in den Augen. „Er wacht über uns!“, rief er. „Man muss an ihn glauben, es ist rechtens …“
„Ich habe gesehen, wie kleine Mädchen von Hunden zerfleischt wurden!“, erwiderte Azrael wutentbrannt. „Und sieh dich hier um! Hornheim ist ein einziger großer Folterkeller, ein Reich des Leides, in dem wir Menschen auf jede nur erdenkliche Art bestrafen! Wenn Gott wirklich über sie alle wacht, warum eilt er ihnen nicht zu Hilfe? Warum lässt er sie solche Qualen erleiden? Es ist einfach: Er hilft uns nicht. Er lässt sich nicht blicken. Erst, wenn wir tot sind, dürfen wir vielleicht – vielleicht! – in den versprochenen Himmel. Und ich durfte nicht einmal das.“ Azrael hob Murakama und deutete auf Halgin. „Ihr fragtet doch, was es mit Gottes Hammer auf sich hat? Ganz einfach. Ich bin Gottes Hammer. Ich bin der strafende Gott, der über die Menschheit herrschen und sie binden wird!“
„Genug.“
Stille kehrte ein, als Halgin vortrat und Azrael aus hell leuchtenden Augen ansah. „Ich habe genug gehört. Es reicht. Die Navali werden Eurem Reich jegliche Hilfe versagen. Mehr noch, wir werden Euch an Eurem Vorhaben hindern.“
Azrael seufzte. Kurz wirkte er tatsächlich betrübt. „Seid Ihr sicher?“
Als Halgin nickte, trat der bleiche Mann mit den großen Flügeln vor und verneigte sich vor seinem König.
„Herr“, setzte er an. „Diese niederen Wesen stellen sich Euch entgegen. Wie sollen wir mit ihnen verfahren?“
Azrael schloss kurz die Augen, dann spaltete ein bestialisches Grinsen sein Gesicht.
„Nun, Berith“, sagte er langsam. „Wie wir es immer tun.“
Im nächsten Moment war er verschwunden.
Iliana sah sich verwirrt um, bis sie den Dämonenkönig mehrere Meter über ihrem Kopf erspähte. Innerhalb eines Augenblicks war Azrael in die Luft gesprungen und hatte Halgin mit einem Überkopfhieb attackiert. Der König der Navali wich jedoch nahezu lässig aus. Ein Wort der Macht entwich seinem Schnabel und erzeugte einen hellen Lichtblitz.
Im selben Moment knurrte auch Azrael ein Wort der Macht. Als er am Boden landete, trafen die beiden Zaubersprüche mit gewaltiger Wucht aufeinander und die Halle erbebte. Iliana hob zitternd den Bogen und zielte auf Azrael.
Plötzlich umwehte Verwesungsgeruch ihren Nacken.
Vor Schreck gaben Ilianas Knie nach und Beriths Hand griff ins Leere. Er war plötzlich hinter ihr aufgetaucht. Der Dämon betrachtete sie aus zusammengekniffenen schwarzen Augen. Schneeweiße Haare umrahmten sein gefurchtes Gesicht.
Iliana beantwortete den Angriff mit einem Pfeil, doch Berith verschwamm zu einem unförmigen Schatten und im nächsten Moment stand er direkt über ihr. Iliana sah ein Messer mit schwarzer Klinge in seiner Hand aufblitzen. Sie erstarrte. Der Tod blickte sie an.
Bevor er zustechen konnte, hielt Berith jedoch entsetzt inne und verschwand erneut. Rotes Licht aus Esbens Folianten umhüllte Iliana.
„Ich warne euch“, rief Esben mit zitternder Stimme, während er das Buch den sich langsam nähernden Gestalten entgegenstreckte. „Ich kann jeden Dämon an mich binden!“
Die schrecklichen Gestalten zischten und fluchten, sie zeigten Esben Klauen und Zähne. Aber sie blieben zurück. Nur Velis schien diese Furcht wenig zu betreffen. Zusammen mit Berengar trat sie vor.
„Ich bin nur ein halber Dämon“, sagte sie ruhig. „Und Berengar ist ein Hrandar. Uns kannst du nicht binden. Sicher, dass du uns bekämpfen willst?“
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, kicherte Berengar und zog einen blutigen Dolch unter seinem Mantel hervor.
Iliana sah, wie Esbens Füße zitterten, doch er stellte sich ihnen mutig entgegen. Im selben Moment erschütterte ein Wort der Macht von Halgin die gesamte Halle und eine Druckwelle schleuderte Iliana zu Boden. Der Angriff entriss ihr den Bogen. Ihr kleiner Köcher löste sich von ihrem Rücken und die Pfeile verteilten sich auf dem schmutzigen Stein. Esben entglitt beinahe das Buch, doch er konnte es sichtlich mit letzter Kraft festhalten. Velis taumelte.
Hinter ihnen tobte ein Kampf der Giganten. Halgin und Azrael prallten wie brennende Kometen aufeinander. Iliana bemerkte, wie Velis das Duell sorgenvoll betrachtete. Schließlich sprach sie, an Esben gewandt: „Unser Herr hat nur Halgin verurteilt. Wir hegen keinen Groll gegen Euch. Geht und wir werden Euch schonen.“
Esben schien dem Angebot nicht abgeneigt, doch der Dämon in Löwengestalt schien anderer Meinung zu sein.
„Sprich für dich selbst, Velis!“, knurrte er und seine sieben Augen loderten auf wie Flammen. Als sein Schwanz umherpeitschte, sah Iliana, dass es sich um eine Schlange handelte. „Das sind Menschen! Wenn sie mir entkommen wollen, müssen sie einen Vertrag mit mir schließen!“ Dabei lachte er laut auf.
Velis setzte zu einer Antwort an, wurde aber von einem weiteren Wort der Macht unterbrochen, diesmal war Azrael der Urheber.
„Genug von diesem Mummenschanz“, meldete sich nun Berith zu Wort. Seine Stimme klang kühl und berechnend. „Beenden wir es.“
Berith spreizte seine Flügel und Esben hob den Folianten. Ein Lichtblitz zerteilte die Luft und Berith hielt plötzlich das Buch in der Hand. Esben starrte ihn fassungslos an. Der Dämon erhob sich in die Lüfte und sprach ein Wort der Macht, das die Realität wie eine filigrane Skulptur aus Glas erscheinen ließ.
Iliana bemerkte nur noch, wie Esben zu Boden fiel, dann wurde alles schwarz.
Halgin wusste, dass er verlieren würde.
Vielleicht nicht diesen Kampf, denn er war Azrael mindestens ebenbürtig. Jedoch rief dieses Duell unerwünschte Erinnerungen und Seiten hervor, die Halgin längst besiegt glaubte. Das dunkle, lüsterne Etwas, das der Fluch vor Äonen in sein Herz gedrängt hatte, drängte wieder nach außen.
Er hatte Iliana die Wahrheit über die Navali immer verschwiegen. Ihre Strafe bestand nicht nur aus der Verwandlung in Vögel, sondern auch aus einer immerwährenden Feindschaft. Sie waren wie hungrige Tiere übereinander hergefallen, hatten sich mit ihren Schnäbeln gegenseitig zerhackt und keinen Gedanken mehr an Magie verschwendet.
Halgin krächzte ein Wort der Macht, das genug Kraft freisetzte, um einem normalen Menschen die Rippen zu zerfetzen. Doch Azrael war längst kein normaler Mensch mehr. Murakama leuchtete auf und der Angriff löste sich wirkungslos auf.
Dieser Kampf erinnerte ihn zu sehr an Beldur.
Sie hatten sich ebenso bekämpft wie nun, mit all ihren magischen Fähigkeiten, als der animalische Fluch nachließ und sie allmählich zur Besinnung kamen. Als Menschen waren sie Freunde gewesen, als Tiere erbitterte Feinde und Rivalen.
Azrael erlangte erneut übermenschliche Geschwindigkeit. Diesmal reagierte Halgin beinahe zu spät. Er vollführte eine Rolle in der Luft und wich aus.
Beldur war nicht ausgewichen.
Nach dem Kampf hatte Halgin Beldurs Küken an sich gebunden. Die Küken lebten ein glückliches Leben unter seinem Schutz und vermehrten sich. Nach Äonen war ein gewaltiger Schwarm entstanden, der nun unterschiedlichste Gebiete der Welt bevölkerte. Ein letztes Zeugnis vom Ruhm des Verlorenen Reiches.
Azrael landete leichtfüßig auf dem Boden und hob herausfordernd sein Schwert. Er wollte einen Angriff provozieren. Halgin würde ihn nicht enttäuschen. Er sammelte seine Kräfte und entrang seiner Kehle das älteste Wort, das er kannte, das Raum und Zeit verbog und wie die Spielzeuge eines Kindes durcheinanderwirbeln ließ.
Azraels Augen weiteten sich, als die Luft um sie herum sich krümmte. Eine Anstrengung von Halgins Geist entriss ihm das Schwert, das in einen Wirbel aus Farben glitt, der sie vom Rest der Halle trennte. Halgin hatte eine abgeschlossene Sphäre, eine Welt in einer Welt erzeugt.
Halgin wusste, dass er hier den Tod finden würde. Zu viele Dämonen bevölkerten Hornheim. Er verwehrte sich seinem Schicksal nicht. Trotz seiner Sünden war ihm ein langes Leben geschenkt worden. Dennoch wollte er nicht abtreten, ohne ein letztes Übel zu tilgen.
„Hier bin ich allmächtig“, sagte Halgin und deutete mit dem Kopf auf den Wirbel aus Farben, der sie umschloss. „Das hier ist eine Realität in der Realität. Hast du letzte Worte, Teshin?“
„Teshin ist tot!“, knurrte Azrael. Ehe Halgin reagieren konnte, erglühte der König plötzlich rötlich und der Boden schien sich aufzutun. Entsetzen ergriff Halgin.
„Ist das … ?“, setzte er an.
Azrael grinste ihn an. Er schwebte über einem gewaltigen Maul, das lange Reihen scharfer Zähne zierten. Schreie und Rauch drangen aus dem Schlund an die Oberfläche. Flammen tanzten im Abgrund und warfen unnatürlich verrenkte Schatten missgestalteter Wesen an die Wände.
„Wir beide wissen, dass es keine Hölle gibt“, rief Azrael. „Also musste ich eine erschaffen.“
Halgin löste sofort seinen Zauber, der Wirbel verschwand und der Rest der Welt schien sich mit einem Mal um sie zusammenzuziehen, nachdem sie ihr in eine andere Sphäre entkommen waren. Der plötzliche Wechsel brachte Azrael aus dem Gleichgewicht und der Schlund verschwand in einer schwarzen Rauchsäule.
Nun standen sie wieder in der großen Halle.
„Wie konntest du nur!“, rief Halgin fassungslos. „Dieser Zauber …“
„Er unterscheidet sich nicht wesentlich von deinem!“, hielt Azrael dagegen. „Wir erschaffen Welten in Welten. Nur mit dem Unterschied, dass du lediglich den Raum verkrümmst, um deine Gegner festzusetzen, und ich Raum erschaffe.“ Er grinste. „Du weißt ja, jeder Gott braucht eine Hölle, sonst fürchten die Menschen ihn nicht.“
Ehe Halgin etwas erwidern konnte, stand plötzlich der Dämon Berith hinter Azrael. Seine kalten Augen funkelten. Er hielt Esbens Buch in der Hand.
„Ich habe die beiden ins Dunkel geworfen“, sagte er leise.
Entsetzen überkam Halgin. Er warf hastig Blicke in alle Richtungen, bis er Esben und Iliana entdeckte, die leblos am Boden lagen. Zu seiner Erleichterung konnte er sie noch spüren. Sie lebten.
Halgin erkannte, dass er Azrael nicht mit in den Tod reißen konnte. Zu viele Dämonen versammelten sich um ihn. Dieser Kampf war verloren. Aber vielleicht …
Halgin schloss die Augen. Jemand musste den Menschen von der Gefahr berichten. Medardus‘ Heer stand vor Hornheims Türen. Die Tempelsöhne könnten die Dämonen besiegen.
Er selbst war zu wertvoll, Azrael würde ihn bei einem Fluchtversuch verfolgen. Es gab nur eine Möglichkeit.
Er musste sie ablenken.
Die Dämonen waren unvorsichtig, sie sammelten sich allesamt um ihren Herrscher und ließen Esben und Iliana unbeachtet liegen. Das war seine Chance.
Ehe einer der Dämonen reagieren konnte, spieh Halgin ihnen ein bestialisches Wort der Macht entgegen, das eine gewaltige Druckwelle erzeugte. Azrael setzte mit einem arroganten Lächeln dazu an, den Angriff zu blocken, doch im nächsten Augenblick folgte ein zweites Wort, das die Erde beben ließ. Panik brach aus, als die Dämonen das Gleichgewicht verloren und zu Boden fielen. Berith entglitt der Foliant.
Pfeilschnell flog Halgin durch die Luft, schloss seine Klauen um den Ledereinband und brachte den Folianten zu Esben zurück. Er ließ das Buch unsanft auf den reglosen Körper des ehemaligen Priesters fallen und sprach die Formel des Eids.
Halgins Haus besaß einen Zauber, den nur seine Angehörigen meistern konnten. Eine letzte Maßnahme, nicht um sich selbst zu retten, sondern um seiner Untertanen willen.
Halgin sank enkräftet zu Boden, als Esben und Iliana samt dem Buch in einem Lichtblitz verschwanden. Er konnte nur hoffen, dass jemand sie im Heidenwald fand.
Schwer atmend blickte Halgin den Dämonen entgegen, die wütend aufheulten. Er bereute nichts. Sein Eid war erfüllt. Er hatte Iliana beschützt und ihr die Wahrheit über ihren Vater gemäß seinem Versprechen nicht verraten.
Als Azrael den rauchenden Schlund öffnete, wusste Halgin, dass er dem Schöpfer bald selbst begegnen würde.
Ilianas Körper fühlte sich wie Eis an.
Sie konnte sich nicht bewegen. Stattdessen schien sie auf warmem Wasser zu treiben wie ein verlorener Gegenstand. Ruhe umhüllte sie wie ein gnädiges Wort der Macht. Sie besaß kein Wissen, keine Erinnerungen, sie begnügte sich lediglich mit einer simplen Existenz.
In dem Moment rammte ein Licht Ilianas Bewusstsein wie ein Felsbrocken.
Bilder füllten ihre Gedanken. Sie sah ein blutiges Schlachtfeld mit gepfählten Leichen, einen Bruder, der laut nach seiner Schwester schrie, einen verhüllten Mann, der sich in Liebe verzehrte. Dazu erklangen Worte, denen Iliana keinen Sinn abgewinnen konnte.
Am Folkvangstag …
Am Folkvangstag …
Gottes Hammer fällt am Folkvangstag …
Dann endete die Vision so schnell, wie sie begonnen hatte. Ilianas Bewusstsein kehrte langsam zurück und sie sog scharf die Luft ein. Sie spürte Gras unter ihren Fingern.
Zwei männliche Stimmen drangen an ihr Ohr.
„Onkel!“, rief jemand. „Seht doch!“
Eine junge Stimme. Iliana erschien sie angenehm.
„Da ist noch einer.“ Der zweite Mann brummte wie ein Bär.
Im nächsten Moment spürte Iliana kräftige Arme, die sie hochhoben. Sie hörte das Klappern von Stahl. Trugen die beiden Rüstungen?
„Keine Sorge!“, sagte die erste Stimme zu ihr. „Wir bringen euch in Sicherheit!“
Ein Zittern durchfuhr Ilianas Körper und sie hustete. Dann schlug sie die Augen auf.
Nun, eigentlich sollte das nur eine kurze Geschichte werden – so maximal zehn Teile – doch irgendwie kam eines zum anderen und hier sitze ich und schreibe immer noch. Gottes Hammer ist noch nicht zu Ende – denn es gibt noch einige Fragen zu klären. Welche Rolle spielt Medardus in Azraels Plan? Was hat es mit Saskias Tod auf sich? Und was haben Ilianas Visionen zu bedeuten? Nächsten Sonntag beginnt Teil II: „Gottes Hammer: Folkvang“, in dem all diese Fragen noch beantwortet werden ….
Danke fürs Lesen!
LG Antares