Korrekturen 11
11.Teil – Der Neffe des Analysten (1/2)
Ralph Geek-Thoben war schlecht gelaunt. Er hatte alles so gut geplant. Viele Jahre lang hatte er nur auf den Zeitpunkt hingearbeitet, an dem er den Zeitvektor verlassen würde, um seinen Platz in der Herrschaftsfamilie seines Zeitalters anzutreten. Jahr für Jahr hatte er sich bemüht, endlich die Position einzunehmen, die es ihm ermöglichen würde, seine Pläne zu verwirklichen. Er hatte sogar schon einen Plan, wie er es anfangen sollte, seine komplette Identität aus der Datenbank zu entfernen, sobald er in der Zeit verschwunden wäre. Sollten sie doch dann nach ihm suchen. Es würde ihnen nicht gelingen.
Leider hatte sein Plan einen Fehler. Niemals hätte er damit gerechnet, dass ausgerechnet die zuverlässigste Agentin seiner Basis aus der Reihe tanzen würde. Auch hatte er nicht damit gerechnet, dass es ihr gelingen würde, seine Sperren zu umgehen und ihn de facto zu entlarven. Diese verdammte Khendrah! Da fährt sie zurück und macht ihre Manipulation wieder ungeschehen. Wenn es ihm nicht gelang, dies wieder zu kitten, war alles vergebens gewesen. Er hatte Fancan, die zweite Agentin, auf Khendrah angesetzt, doch bisher hatte sie sich noch nicht wieder bei ihm gemeldet.
Immer wieder prüfte er die Datenbanken und achtete insbesondere auf Änderungen im Jahre 2008, doch Fancan schien ihren Auftrag noch nicht erledigt zu haben.
Ralph stützte seinen Kopf auf seine Hände und grübelte. Was sollte er tun, wenn Fancan versagen sollte? Er konnte nicht beliebig viele Agenten auf Khendrahs Fährte setzen. Irgendwann würde jemand unbequeme Fragen stellen. Die Mitglieder der obersten Behörde waren zwar Schlappschwänze, doch dumm waren sie nicht.
»Vielleicht bleibt mir doch nichts anderes übrig, als selbst mit Herwarth Kontakt aufzunehmen«, dachte er, »er führt eine der mächtigsten politischen Parteien seiner Zeit. Es sollte ihm doch auch möglich sein, die Macht ganz einfach mit Waffengewalt an sich zu reißen. Zwar ist in den Archiven nichts über einen Putsch gespeichert, aber bisher habe ich ihm auch noch nicht dazu geraten.«
Ralph lächelte böse. Die Chancen standen vielleicht doch nicht so schlecht, wie er zunächst befürchtet hatte. Er beschloss, selbst einen Exkurs in die Zeit zu unternehmen. Offiziell konnte er seine Reise mit dem Zeitaufzug als Fahrt zu einer Besprechung mit anderen Analysten in der Datenbank eintragen. Tatsächlich jedoch würde er seinem Neffen einen Besuch abstatten und ihn in Dinge einweihen, die im Grunde kein Mensch außerhalb der Behörde wissen durfte.
Er erhob sich und verließ sein Büro, um sich in seiner Wohnung mit allem auszustatten, was er im Jahre 2110 benötigen würde. Der Zeitpunkt lag genau ein Jahr vor dem Termin, der für die Machtübernahmen bereits einmal in der Datenbank gestanden hatte und die möglicherweise auch wieder aktuell sein würde, nachdem Fancan ihren Auftrag erfüllt haben würde. Ein Jahr war willkürlich gewählt. Ralph hatte nur überlegt, dass Herwarth auch einige Zeit benötigen würde, sich auf eine Machtübernahme vorzubereiten. Ein Jahr erschienen ihm da vollkommen ausreichend. Außerdem war 2110 das entscheidende Wahljahr. Er verstaute seine Ausrüstung in den Taschen seines Mantels und betrachtete sich im Spiegel. Der Mantel war nicht eben üblich im Jahre 2110, aber er konnte schlecht Kleidung offiziell aus dem Lager der Agenten anfordern. Es musste das reichen, was er hatte.
Als er seine Wohnung verschloss, blickte er verstohlen den Gang entlang. Er liebte diese Basis und ihre wenigen Mitarbeiter. Man konnte kommen und gehen, ohne, dass es jemandem auffiel. So begegnete ihm auch niemand auf seinem Weg zum Aufzug und er betrat die leere Kabine. Er stellte das Jahr 2110 ein und startete den Zeittransfer. Nach kurzer Zeit war er am Ziel und verließ zügig die Kabine. Nun hatte er sich endgültig strafbar gemacht, denn es stand nur Agenten zu, den Zeitvektor zu verlassen, nicht aber Analysten.
Ralph stand in einer pulsierenden Großstadt direkt im Zentrum des Geschehens. Menschen hasteten vorbei und stießen ihn an. Niemand entschuldigte sich oder machte den Versuch, ihm auszuweichen, sodass er sich dem Strom der Passanten anpassen mussten, um nicht umgerannt zu werden. Es war ein lauer Frühlingstag und er begann in seinem Mantel schnell zu schwitzen.
Ralph war die hier vorherrschende Hektik nicht mehr gewohnt, seit er meist allein in seinem Büro saß und Zeitereignisse analysierte. Aus seiner Jugend kannte er noch Autos, die die Basis des Individualverkehrs darstellten, doch hier im Jahre 2110 hatte der Verkehr auch noch die Luft erobert. Ständig flogen kleine und große Fahrzeuge vorbei, die futuristischen Hubschraubern ähnelten. Er fragte sich, wie man sich in einem solchen, dreidimensionalen Verkehr überhaupt zurechtfinden konnte. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Soweit das Auge reichte, flogen in verschiedenen Ebenen diese Flieger zwischen den Hochhausschluchten kreuz und quer herum. Der Lärm war ohrenbetäubend. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die meisten der Passanten Ohrenschützer trugen. Er nahm sich vor, sich auch so etwas zu besorgen, wenn er länger hier leben musste. Am schlimmsten jedoch waren die Werbetafeln. Jede Wand eines der Hochhäuser war gleichzeitig eine animierte Werbefläche, die alle möglichen Waren marktschreierisch anpries. Überall war Bewegung und überall blitzte es bunt und hektisch. Ralph spürte, dass er aus dieser Reizüberflutung schnellstens heraus musste.
Am Straßenrand erblickte er kleine Hubschrauber mit gelber Lackierung. An der Steuerung dösten die Piloten vor sich hin. Ralph vermutete, dass es in dieser Zeitebene das Gegenstück zu den Taxis war, die er noch aus seiner eigenen Zeit kannte.
»Entschuldigen Sie«, sprach er einen der Piloten an, »sind Sie frei und können mich zu meinem Ziel bringen?«
Der Mann schien aus seiner Lethargie zu erwachen und sah ihn von der Seite an.
»Wenn Sie mir verraten, welches Ihr Ziel ist, kann ich es Ihnen sagen.«
»Ich muss so schnell wie möglich zur Zentrale der pro-europäischen Volkspartei«, sagte Ralph.
Seine Miene verfinsterte sich ein wenig.
»Sind Sie auch einer von denen?«, fragte er unfreundlich.
»Wieso?«, fragte Ralph unbefangen, »Erklären Sie es mir. Ich war lange Zeit nicht im Lande und muss jemanden treffen, der dort arbeiten soll. Was ist mit der pro-europäischen Volkspartei?«
Der Mann wurde etwas zugänglicher.
»Sie müssen aber weit weg gewesen sein, wenn sie noch nichts von der PEV mitbekommen haben. Diese Leute vermehren sich wie die Kakerlaken. Überall tauchen sie auf und verbreiten ihre Propaganda. Ich sag’s Ihnen: Wenn die jemals an die Macht kommen, können wir uns warm anziehen.«
»Würden Sie mich trotzdem dort hinbringen?«, fragte Ralph und winkte mit einem Bündel Geldscheine, »Ich muss unbedingt dort hin und es ist ein gutes Trinkgeld für Sie drin.«
»Na, dann springen Sie ‚mal ‚rein und schnallen Sie sich gut an«, sagte der Pilot und ließ den großen Propeller anlaufen.
Ralph stieg ein und schloss die Tür hinter sich. Er war überrascht, wie leise es innerhalb der Kabine war. Der Verkehrslärm von draußen und das Motorengeräusch des Taxis waren zwar noch zu hören, störten aber nicht mehr.
»Sind Sie angeschnallt?«, fragte der Pilot, »Die Zentrale der PEV ist auf der entgegengesetzten Seite der Stadt. Wir müssen zahllose Richtungs- und Ebenenwechsel durchführen. Es kann etwas holprig werden. Ich hoffe, Sie sind nicht empfindlich. Die Tüten befinden sich in der Tasche vor Ihnen.«
Dann hob das Hubtaxi ab und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Ralph hatte seine liebe Mühe, den Magen unter Kontrolle zu halten. Für einen Menschen, der noch im einundzwanzigsten Jahrhundert aufgewachsen war, bedeutete der Verkehr des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts ein absolutes Abenteuer. Der Pilot flog in haarsträubenden Manövern bis in eine Höhe von etwa fünfhundert Metern, wo die Verkehrsdichte etwas nachließ. Erstmals erhielt Ralph etwas Gelegenheit, sich etwas umzusehen.
»Ist der Verkehr hier immer so haarsträubend?«, fragte er den Piloten.
Dieser drehte sich ein wenig zur Seite und meinte:
»Um diese Zeit ist es noch angenehm, aber wenn die großen Bürokomplexe Feierabend machen – dann wird es wirklich unmöglich. Seien Sie froh, dass Sie davon jetzt nichts mitbekommen.«
Ralph blickte auf den Höhenmesser: Sechshundert Meter. Trotzdem wurden sie noch immer von hohen Wolkenkratzern umgeben. Sie flogen noch fast eine halbe Stunde und noch immer befanden sie sich über der dicht besiedelten Stadt. Endlich lichteten sich die Reihen der Hochhäuser etwas und man konnte etwas weiter blicken.
»Sehen Sie dort hinten das Gebäude, das aussieht, als wenn jemand eine umgedrehte Pyramide auf einen Turm gestellt hätte?«, fragte der Pilot und deutete nach vorn, »Das ist das Gebäude der PEV. Ich werde Sie dort absetzen, aber erwarten Sie nicht, dass ich warte. Ich bin immer froh, wenn ich etwas Raum zwischen mir und diesen Leuten habe.«
Ralph antwortete nicht darauf.
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir das Finanzielle jetzt schon erledigen könnten«, fuhr der Pilot fort, »ich berechne Ihnen für diesen Flug dreiundsiebzig Credite.«
Ralph zog vier Zwanzig-Credit-Chips hervor und überreichte sie ihm.
»Stimmt so«, meinte er, worauf der Pilot wieder etwas zugänglicher wurde.
»Sie nähern sich dem Luftraum der PEV!«, tönte es aus dem Lautsprecher der Funkanlage, »Bitte identifizieren Sie sich, sonst müssen wir Sie abschießen.«
»Hören Sie, was das für Leute sind?«, fragte der Pilot Ralph, »Sie haben es sogar erreicht, dass sie ungestraft Selbstjustiz ausüben können.«
Er drückte ein Taste.
»Hier spricht Lufttaxi 173-42«, sprach er ins Mikrofon, »ich habe einen Fluggast mit Ziel PEV-Zentrale. Erbitte Einfluggenehmigung.«
»Erteilt für Ebene drei«, kam es aus dem Lautsprecher, »laden Sie ihren Fluggast ab und verlassen Sie unseren Luftraum.«
Sie näherten sich dem Tower der PEV und Ralph erkannte erst jetzt, welche gigantischen Ausmaße dieses Gebäude hatte. Der Bau allein musste ein Vermögen gekostet haben. Erst aus der Nähe konnte man erkennen, dass es regelrechte waagerechte Einschnitte in dem pyramidenartigen Teil des Turms gab. An einem dieser Einschnitte prangte eine leuchtende 3 – hier lag ihr Ziel. Das Lufttaxi flog zügig in die zugewiesene Ebene ein. Sie passierten fest montierte Stände mit Luftabwehrwaffen, die von mehreren Männern besetzt waren, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. Der Pilot setzte auf dem Boden der Ebene auf, Ralph sprang heraus und das Taxi hob sofort wieder ab und flog hinaus.
Ralph stand einen kurzen Moment allein auf dem Landefeld, dann erschienen einige bewaffnete Männer und nahmen ihn ihn ihre Mitte.
»Wer sind Sie und was wollen Sie?«, wollte der Anführer wissen, »Ihre Ankunft wurde nicht erwartet.«
»Mein Name ist Ralph Geek-Thoben und ich bin ein naher Verwandter Ihres Leiters Herwarth Thoben«, sagte er, »Ich muss ihn unbedingt sofort sprechen.«
Der Anführer wurde etwas vorsichtiger.
»Dann dürfte ich Sie bitten, sich auszuweisen«, sagte er, »wir haben Anweisung, niemanden vorzulassen, dessen Identität nicht zweifelsfrei ermittelt werden kann.«
Ralph zog eine Marke hervor und reichte sie ihm.
»Ich denke, das sollte reichen.«
Der Mann blickte auf die ihm überreichte Marke.
»Was soll das sein?«, wollte er dann wissen, »Sie glauben, dass Sie sich mit diesem lächerlichen Ding ausweisen können? Was wollen Sie wirklich? Sie werden doch nicht angenommen haben, dass wir Ihnen eine Gelegenheit bieten würden, unseren Leiter anzugreifen.«