Gottes Hammer VIII
Teshin konnte selbst kaum fassen, was ihm hier widerfuhr.
Er saß auf einem Wagen des Militärs und lenkte ihn mit äußerst ungesunder Geschwindigkeit durch einen verfluchten Wald, neben ihm saßen eine mutmaßliche Hexe und ein König, den man in einen Vogel verwandelt hatte. Über dem Gefährt stieß eine Phalanx aus schwarzem Gefieder mit hellen Punkten durch das Dach der Nadelbäume. Lautes Krächzen verkündete das Kommen eines vergessenen Herrschers.
Halgin thronte trotz seiner geringen Größe majestätisch auf Ilianas Schulter. Das Mädchen war keinesfalls so unbedarft, wie Teshin gedacht hatte. Kaum nach ihrem kurzen Kampf war ihr ein Jagdbogen der toten Soldaten in die Hände gefallen. Ihr Umgang mit der edlen Waffe zeigte Teshin, dass sie ein solches Werkzeug nicht das erste Mal benutzte.
Kein Wunder, dass sie den Dorfbewohnern unheimlich vorkam. Teshin entsann sich der Legende einer Frau, die eine Rüstung anlegte und im Krieg anseiten von Männern für ihr Heimatland kämpfte. Sie wurde jedoch von ihrem Herrscher gefangen genommen und für diesen angeblichen Frevel hingerichtet. Die Geschichte verunsicherte Teshin als Kind dermaßen, dass er seinen Vater fragte, warum es eigentlich keine weiblichen Kriegshelden gab. Die Antwort hatte sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt:
„Weil die Sitte es so verlangt!“
Teshin lächelte grimmig. Gut, dass Söldner im Normalfall nicht viel auf Sittsamkeit gaben. Saskias Bild durchzuckte seine Erinnerungen und der kalte Schmerz der Ungewissheit vergiftete seinen Verstand. Er musste sich dringend ablenken.
„Halgin!“, rief er aus Leibeskräften, um das vielfache Krächzen zu übertönen.
„Ich höre dich, Angnaur.“ Obwohl Halgin nicht laut sprach, konnte Teshin die Worte ohne Schwierigkeiten verstehen.
„Wie kommt es, dass ein mächtiger König wie Ihr schwört, einem einfachen Mädchen Schutz zu gewähren?“ Dabei glitt Teshins Blick über Iliana. Ihre eisblauen Augen funkelten gefährlich, als sie den Sinn seiner Frage erfasste. Offenbar misstraute sie ihm trotz ihrer Abmachung.
Halgin wirkte beschwingter. Er stieß ein absonderliches Lachen aus, das einen erschrockenen Specht in die Flucht schlug und Teshins Nackenhaare in starre Säulen verwandelte.
„Ich verstehe deine Neugier, doch möchte ich dir nicht jedes Geheimnis offenlegen. Diese Geschichte muss die junge Iliana selbst erzählen. Wenn sie schweigt, tue ich es ebenfalls.“ Mit einem Seitenblick versicherte sich Teshin, dass Iliana noch lange schweigen würde.
Im selben Moment stieß eines der Pferde ein bestialisches Wiehern aus, das eher an das Heulen eines Wolfsrudels erinnerte. Teshin erschauderte. Halgin hatte vor ihrem Aufbruch seltsame Worte der Macht gesprochen, die dem Gespann größere Kraft verleihen sollten. Langsam revidierte Teshin seine Meinung über die alleinige Existenz der heiligen Magie. Oder hatte Halgins Macht denselben Ursprung wie die sakrale Macht der Priester und Inquisitoren?
„Ihr seid ehrenhaft!“, nahm Teshin schließlich das Gespräch wieder auf. „Ich gebe zu, ich bin sehr beeindruckt. Die Adeligen, die ich kenne, streben in erster Linie nach Macht. Wie kommt es, dass Ihr so rechtschaffen seid?“
Diesmal lachte Halgin nicht. Stattdessen glänzte Schwermut in seinen dunklen Augen.
„Ich kann dir versichern, Angnaur, dass ich nicht immer so war. Aber nachdem ich Jahrhunderte durch die Wälder streifte und verzweifelt nach einem Beweis suchte, dass ich tief, tief im Inneren noch immer ein Mensch war, war dies meine einzige Zuflucht. Ich hatte tausend Nächte, um meine Sünden zu bereuen und weitere tausend Nächte, um von ihnen im Schlaf heimgesucht zu werden. Meine Ehre und meine Eide sind die einzigen Dinge, die mich noch vom Tier unterscheiden.“ Er seufzte schmerzerfüllt. „Aber ich denke kaum, dass ein Söldner das verstehen kann.“
Kurz breitete sich Schweigen über sie aus wie ein dunkles Tuch. Die Pferde gaben erneut dieses entsetzliche Wiehern von sich. Das Dach des Waldes verdichtete sich immer weiter und die spärlichen Lichtstrahlen fanden kaum noch den Weg zu ihren Augen. Schließlich erwiderte Teshin: „Einst kannte ich einen Mann, der ähnliche Ideale vertrat. Ich habe ihn immer bewundert, denn er schwang das mächtigste Schwert der Welt.“
„Welches?“, fragte Iliana interessiert. Kaum war die Rede von Waffen, hatte er ihre Aufmerksamkeit. Teshin klopfte auf Murakamas Scheide.
„Dies hier. Die heilige Murakama, benannt nach einer alten Stätte des Wissens und der Weisheit.“
Eine von Ilianas Augenbrauen wanderte fragend nach oben. Halgin schien ihre Auffassung zu teilen. „Hat er es dir freiwillig übergeben, Angnaur?“
Teshin seufzte. Ungewollte Erinnerungen drängten sich in sein Bewusstsein. „Ja und nein. Er war bereits tot, als ich es an mich nahm.“
„Ist er im Kampf gefallen?“, fragte Iliana.
Teshin schnaubte. „Das würde man von einem Helden erwarten, nicht wahr? Aber nein. Er wurde hinterrücks gemeuchelt von einem heimtückischen Attentäter, ohne dass er seinen Mörder auch nur zu Gesicht bekam. Das hat mich eine wichtige Lektion gelehrt.“
Halgins Augen verengten sich zu Schlitzen. „Welche?“
„Ehre schützt dich vielleicht vor dir selbst, aber nicht vor anderen.“ Teshin presste die Lippen aufeinander. Ähnliche Worte hatte er auch an Saskia gerichtet. Ihre Antwort war lediglich ein trauriges Lächeln gewesen. Teshin würde diese simple Geste nie vergessen. Dieses Lächeln hatte sie schließlich zu Partnern gemacht.
Halgin schwieg. Ilianas Interesse hingegen schien nicht abzuflauen.
„Was für ein Attentäter? Und warum hat er das Schwert nicht genommen?“, fragte sie, die Wangen durch Eifer erhitzt.
„Was hätte er damit tun sollen? Assassinen lauern in den Schatten und nutzen Armbrüste und Dolche, keine Bögen oder Schwerter.“ Dabei deutete Teshin mit dem Kinn auf Ilianas neue Waffe. Kaum bemerkte sie seinen Blick, zog sie den Bogen enger an sich. Teshin seufzte und richtete seinen Blick wieder auf den Wald vor ihnen. Die Pferde schienen ihn nicht zu brauchen. Halgins eiserner Wille zwang sie scheinbar auf den richtigen Weg.
„Außerdem war es ein politischer Mord,“ fuhr Teshin fort. „Die berühmte Waffe an sich zu nehmen, hätte nur Spuren hinterlassen.“
Iliana schüttelte verständnislos den Kopf. „Für ein magisches Schwert würde ich alles tun! Dieser Attentäter war wohl nicht ganz dicht.“
„Zügle deine Zunge, mein Kind.“ Sorge furchte Halgins Stirn. „Unser Verbündeter könnte dies als Drohung auffassen.“
„Oh!“ Zu spät erkannte Iliana den Zwiespalt ihrer Worte. „Tut mir leid!“
„Schon gut.“ Teshin wollte keinen Streit. In seiner Lage benötigte er Verbündete dringender als je zuvor. Hoffentlich fand er bald Antworten in Hornheim.
„Ihr habt mir noch immer nicht verraten, weshalb Ihr diesen Dämonentempel eigentlich vernichten wollt, Majestät.“
Halgin flatterte mit den Flügeln. „Hornheims dunkle Aura war lange Zeit nicht mehr als ein vages Flüstern am Rande meiner Gedanken. Doch seit wenigen Monden fühle ich, wie dunkle Kräfte sich dort sammeln. Es ist gewiss kein Zufall, dass du hier in diesem Wald erwacht bist, so nahe am Quell des Übels.“ Ein seltsames Lodern trat in Halgins Blick. Der König war sich offenbar immer noch sicher, dass er mit Hornheim in Verbindung stand. Teshin konnte es ihm nicht verdenken. Wenn Iliana rechtbehielt, hatte er als Dämon Menschenleben gefordert. Wie hatte er nur all die Erinnerungen daran verlieren können?
Teshin räusperte sich. „Ist es dann nicht etwas leichtsinnig, mich dorthin zu bringen? Im Moment stehe ich auf eurer Seite, aber was, wenn mich in den vergangenen Monaten etwas kontrolliert hat? Es könnte jederzeit wieder von mir Besitz ergreifen!“
Erneut erscholl Halgins Lachen. „Seit Äonen sehne ich mich nach einem würdigen Gegner. Ich versichere dir, selbst der mächtigste Schertkämpfer hätte seine Schwierigkeiten mit mir!“
Teshin behielt seine Bedenken lieber für sich. Wie wollte Halgin einem Schwertstreich denn begegnen? Mit dem Schnabel vielleicht?
Er wird ihm gar nicht begegnen. Er kann fliegen. Die höhnische Stimme hatte wieder das Wort ergriffen. Teshin verkniff sich eine Antwort. Selbstgespräche machten ihn in den Augen der anderen gewiss nicht vertrauenswürdiger. Stattdessen dachte er mit aller Kraft: „Wenn ich ernst mache, nützt ihm das auch nichts!“
Die Stimme schwieg. Teshin seufzte erneut. Wenn er in Aminas gewusst hätte, welche Hürden ihn noch erwarteten …
Plötzlich lichteten sich die Bäume und die Pferde verfielen in leichtes Traben. Halgin gab ein grässliches Wort von sich, das Teshin zusammenzucken ließ. Augenblicklich hielt das Gespann an. Teshin atmete erleichtert auf.
„Wir sind da. Sich dem Bauwerk weiter zu nähern, werde ich dir nicht gestatten.“ Halgin deutete mit dem Schnabel auf eine weitläufige Ödnis, die sich bis zu der hohen Bergkette ihnen gegenüber zog. Teshin ließ seinen Blick über das unfruchtbare Land schweifen, bis er in der Ferne Ruinen erspähte. Täuschte er sich oder drang Qualm aus den umgestürzten Türmen?
„Weckt der Anblick Erinnerungen?“, krächzte Halgin erwartungsvoll.
Teshin starrte die alten Bauwerke mit zusammengekniffenen Augen an. Er erkannte nichts von alledem wieder. „Tut mir leid …“
Weiter kam er nicht. Plötzlich fiel ein mächtiger Schatten auf sie. Teshins Hand fuhr zum Schwert. Murakamas blauer Schein erhellte die Luft, als bereits der erste Hieb auf ihn niederfuhr. Teshin stöhnte unter dem gewaltigen Angriff auf und sein Blick verschwamm leicht. Schwärze und der Geruch von Verwesung umhüllten ihn. Eine raue Stimme zischte unverständliche Sätze in einer alten Sprache. Teshin fühlte, wie ihm sämtliche Kraft entglitt.
Im nächsten Moment durchstieß ein Wort der Macht die Finsternis wie ein Pfeil. Teshin brach atemlos auf dem Kutschbock zusammen. Halgin hatte sich schützend vor ihm in die Luft erhoben. Wärme schien von seinem Gefieder auszugehen.
Zum ersten Mal konnte Teshin den Angreifer näher betrachten. Vor ihnen schwebte wie auf einem unsichtbaren Gestell eine vermummte Gestalt in schwarzen Gewändern mitten in der Luft. Ketten umschlangen den dürren Körper wie eine Rüstung. Zwei behandschuhte Hände umklammerten einen schwarzen Stab mit dornenbesetzter Spitze. Teshin hatte die furchtbare Waffe beim ersten Streich gerade noch von seinem Körper fernhalten können.
Teshin schluckte. Die dunkle Kapuze erinnerte ihn an den Attentäter, der einst sein bewundertes Idol erschlagen hatte. Wut stieg in ihm auf.
Ehe der verhüllte Angreifer erneut die Initiative ergreifen konnte, erhob sich Halgins Stimme wie Donnergrollen. Zweifelsohne hatte er nur seine Gestalt verloren, keineswegs aber seine Macht als König.
„Wer wagt es, über meinen Gefährten herzufallen wie ein gemeiner Strauchdieb? Gib dich zu erkennen, Unhold!“
Zunächst verharrte die Gestalt reglos vor ihnen in der Luft. Dann hob sie langsam eine Hand und führte sie zu der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Ein Schwall aus Kälte umfing Teshin, als der Stoff von ihrem Kopf glitt.
Yvonne Falk
Interessiert habe ich deine Geschichte bis hier hin verfolgt. Es gibt einiges, was rätselhaft ist und ich würde gern wissen, ob die Auflösung noch kommt. Leider scheint Kapitel sieben verloren gegangen zu sein. Es wäre nett, wenn du das noch nachträglich einstellen könntest.