Alte Geister
Mit Herzklopfen lief er den schwach bewaldeten Hang hinauf.
Was würde geschehen? Sollte er nicht besser umdrehen? War es nicht falsch, die
alten Geister zu rufen?
Er blieb stehen, schöpfte Atem und lächelte über sich selbst. Vor zwanzig
Jahren war er diesen Hang leichter hinaufgestiegen, selbst mit seiner tiefen
Trauer im Gepäck.
Die letzten Schritte ging er achtsam, er spürte, dass die alten Gefühle um ihn
herumschlichen, bereit, zuzuschlagen.
Dort stand sie, die Bank, auf der er damals Abschied genommen hatte. Sie war
verwittert, ihre einstmals rote Farbe nur noch zu erahnen. Er setzte sich und
schaute über das weite Tal.
Direkt unter ihm, vielleicht dreißig Meter tiefer, schmiegten sich die ersten
Häuser des Dorfes an den Hang. Ihre roten Dächer blitzten unter den kräftig
grünen Baumkronen hervor. Der größere Teil des Dorfes erstreckte sich in die
Ebene hinein, bis in die Nähe der Autobahn, welche die saftigen Wiesen hinter
dem Ort teilte und mit ihrem grauen Band die Mitte des Tales markierte.
Der Himmel leuchtete blau. Ein böiger Wind, der immer wieder kräftig in die
Baumkronen fuhr, ließ das Sonnenlicht auf den Hausdächern tanzen.
Die gegenüberliegende Seite des ehemaligen Flussbettes schien zum Greifen nah.
Und doch waren es gut zwei Kilometer bis hinüber zum Nachbardorf, das sich auf
der anderen Seite der Autobahn wie ein Spiegelbild des diesseitigen Ortes
ausbreitete und sich ebenfalls ein Stück den Hang hinaufzog. Drei Windräder
krönten den Hügel, ragten weit über die Baumwipfel hinaus und zogen seinen
Blick magisch an. Wie oft hatten sie sich vorgenommen, einmal ganz nahe an
eines der Windräder zu wandern und hatten es doch nie geschafft.
Wo war der Baum geblieben? Der Baum, den sie immer als Sinnbild ihrer Beziehung
verstanden hatten. Dessen kräftiger Stamm sich früh in zwei eigenständige
Baumhälften teilte. Um sich dann, in der Krone, wieder zu vereinen. So wie sie
sich mehrmals getrennt und wieder zusammengefunden hatten.
Bis ihre Verbindung auf dem grauen Band endgültig zerriss. Es war ihm nicht
möglich gewesen hier weiterzuleben, nachdem er sie tot aus dem Auto gezogen
hatte. Er verließ das Dorf um bis heute nicht wiederzukehren.
Und nun, nach so vielen Jahren, saß er hier und die Erinnerung schmerzte nicht
mehr. Der Baum war nicht mehr da. Das erschien ihm richtig.
Er fühlte eine große Dankbarkeit für alles, was er mit ihr erlebt hatte. Und
heute auch dafür, dass sein Leben weitergegangen war.
Später, gegen Abend, würde er ihr Grab auf dem kleinen Dorffriedhof besuchen
und dann würde er zurückkehren.
Zufrieden stand er auf und machte sich auf den Rückweg. Es war richtig gewesen,
hierher zu reisen. Nun wusste er, die alten Geister hatten keine Macht mehr
über ihn.
InEs
Wunderbar erzählt! Die Zeit heilte die schmerzhaften Wunden seines Schicksals. Er konnte loslassen und erinnerte sich an den Baum, der nicht mehr ist, doch einst Sinnbild für ihre Beziehung war.