Gottes Hammer VII
Teshin wusste nicht, wie lange er reglos auf dem Kutschbock verharrte. Er starrte Murakamas blutbefleckte Klinge an, als sähe er sie zum ersten Mal. Vom hungrigen Leuchten des Schwertes war nur noch ein schwaches Flimmern geblieben.
Teshin hatte in seinem Leben viele Dinge getan, die ihn nicht mit Stolz erfüllten. Als Söldner musste man über dehnbare Moralvorstellungen verfügen, um den Beruf ausüben zu können. Nichtsdestotrotz war ihm nur selten aufgetragen worden, einen Menschen zu töten. Diese Aufgabe fiel Assassinen zu, die wie Spielfiguren der Mächtigen aus dem Schatten heraus handelten.
Die meisten Aufträge bestanden aus simplem Begleitschutz. Teshin erinnerte sich an einen wohlhabenden Bürger, der ihn und Saskia zum Schutz seiner Tochter anheuerte. Der Vater selbst war bettlägerig und konnte sie nicht zu ihrer Hochzeit im schönen Süden begleiten. Teshin hatte auf der Reise einen verarmten Kriegsveteranen getötet, der sie auf offener Straße angriff. Schon damals verspürte er Mitleid mit dem elenden Mann. Nun schienen seine lichtlosen Augen sich wieder auf ihn zu richten, wie glühende Gespenster längst vergangener Tage.
Plötzlich riss ihn das Rasseln von Ketten aus seiner Starre. Teshin fuhr herum und betrat wieder den Wagen. Die Hexe hatte er fast vergessen.
Nicht die Hexe, korrigierte ihn die Stimme in seinem Kopf. Das Mädchen.
Eisblaue Augen richteten sich auf ihn, von Dunkelheit umgarnt. Teshin wurde sich peinlich bewusst, dass er in seiner Aufmachung wie ein Gesetzloser wirken musste. Ein blauäugiger junger Mann mit rabenschwarzen Haaren, einer blutigen Tunika und mit gerötetem Stahl in der Hand weckte vermutlich keine Sympathiewerte.
„Es tut mir leid“, flüsterte er, an niemand bestimmten gerichtet. Langsam näherte er sich dem Mädchen, das ihn angespannt musterte. Es sprach kein Wort. War es am Ende auch stumm?
Saskia lässt dich nicht los.
Teshin erwiderte nichts auf den Kommentar der Stimme. Stattdessen befreite er die Angeklagte vorsichtig von ihren Fesseln.
„Du bist frei“, murmelte er.
Das Mädchen starrte ihn überrascht an. Plötzlich schien sich die Plane zu nähern und Teshin zu ersticken. Der Verwesungsgeruch überdeckte seine Sinne. Teshin taumelte und Murakama entglitt seiner Hand. Ihm gelang es noch, auf den Kutschbock zu wanken, bevor er dem Erdreich sein schmutziges Opfer übergab. Die Pferde wieherten empört. Übelkeit breitete sich in Teshins Körper aus wie giftiges Feuer. Er vermied tunlichst, Ulrichs kalte Überreste anzusehen.
Das Mädchen trat zögerlich unter der Plane hervor und musterte ihn. Im Eisblau der Augen schimmerten Argwohn und Mitleid wie im Kampfe verschlungen. Teshin konnte nicht anders, er musste lachen. Dabei schlossen sich seine Finger um Murakamas Griff.
„Du hältst mich wahrscheinlich für wahnsinnig!“, rief er. „Für einen Verrückten oder Ärgeres. Dabei bin ich eigentlich ein ganz normaler Söldner. Von meiner Magie einmal abgesehen.“ Er kicherte. Der Laut ließ ihn erschaudern.
„Geht es Euch wirklich gut?“ Die Stimme der angeblichen Hexe klang ungewöhnlich hoch und brüchig, so als würde sie nicht oft verwendet. Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Teshin bemerkte, wie ihr Blick Ulrichs Schwert neben ihm streifte.
Teshin lachte erneut. Seine Stimme überschlug sich. „Du willst mich töten?“, fragte er amüsiert. „Nur zu! So ein Schwert ist schwerer, als es aussieht und du bist keine Magierin, nehme ich an. Es sei denn, in den vergangenen Monaten, in denen ich bewusstlos war, hat sich die ganze Welt verändert.“ Teshin keuchte wie nach einem anstrengenden Duell. Als er sich wieder fasste, beruhigte sich seine Stimme langsam.
„Tut mir leid. Wie ist überhaupt dein Name?“
Zunächst antwortete das Mädchen nicht, sondern schien in Gedanken abzuwägen, wie hoch seine Siegeschancen in einer Konfrontation waren. Schließlich erwiderte es zögerlich: „Iliana.“
„Hallo, Iliana. Wie es aussieht, ist das nicht unser Tag. Aber keine Angst, ich werde dich nicht ausliefern oder dir sonst irgendetwas antun. Aber nach Hause kann ich dich auch nicht bringen. Die Dorfbewohner würden dich lynchen.“ Teshin wandte sich um und trat in einem Anfall von plötzlicher Aggression Ulrichs Leiche vom Kutschbock. Ein hässliches Geräusch beim Aufprall kündete von verdrehten Gliedern. Gram schloss sich um Teshins Herz wie die eisigen Finger einer tödlichen Klaue.
„Ich kenne dich.“, sagte Iliana unvermittelt. Ein gefährliches Funkeln schlich sich in ihren kalten Blick. „Du hast den Bürgermeister getötet.“
Teshin dachte an Ulrichs Worte. Scheinbar entsprach die Geschichte vom Schwertdämon wirklich der Wahrheit. Er kicherte ungehalten. Was zu viel war, war zu viel. „Ja, klar. Dafür bin ich auch verantwortlich. Wie für jeden Scheiß, der auf dieser gottverlassenen Welt passiert. Wahrscheinlich bin ich in den letzten Monaten auch nach Aminas marschiert und habe dieses komische Gottes Hammer-Dingsbums erweckt. Nur schade, dass alle Erinnerungen weg sind!“
Vorsicht.
Die Warnung der Stimme entriss ihn dem Wahnsinn gerade noch bald genug, um den Angriff zu bemerken. Drei schwarze Vögel mit hellen Punkten auf den kleinen Köpfen fielen ihn laut krächzend an. Teshin zog rechtzeitig blank und parierte den Sturm der Schnäbel. Als er zum Konter ansetzte, wichen die Vögel zurück und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren. Er erkannte sie. Einer von ihnen war ihm im Wald begegnet.
„Was zur Hölle … ?“
Weiter kam er nicht. Jeden anderen Menschen hätte der Stoß getötet. Doch Teshin war kein gewöhnlicher Mensch. Als er aus dem Augenwinkel das Blitzen von Stahl direkt hinter seinem Rücken erkannte, stieß er sich mit aller Kraft und Magie ab und sprang, in eine bläuliche Aura gehüllt, blitzschnell vom Kutschbock.
„Du bist schnell“, lobte er anerkennend. „Aber nicht schnell genug.“
Die eisblauen Augen starrten ihn ergrimmt an. Iliana hatte sich während der unerwarteten Offensive der Vögel eines Dolches bemächtigt und sich von hinten angeschlichen. Teshin erkannte die heiligen Verzierungen. Ulrich war offenbar sein Vorbesitzer gewesen.
Bevor Teshin auf sie einreden konnte, pfiff Iliana. Wieder erfüllte Krächzen die Luft und die seltsamen Vögel fuhren auf ihn nieder. Teshin hob Murakama über den Kopf, doch ein Schnabel traf seine Hand und warmes Blut quoll aus der Wunde hervor.
Wut und Furcht verliehen ihm den nötigen Antrieb. Teshin stieß einen animalische Schrei aus, dem eine Druckwelle reinster Magie folgte. Murakamas blaues Brüllen flammte auf wie ein vereister Waldbrand und fegte die Angreifer vom Himmel. Unter protestierendem Gekrächze taumelten sie aus seiner Reichweite.
Iliana wich entsetzt zurück. Ohne weiter nachzudenken, katapultierte Teshin sich in die Luft und landete neben ihr auf dem Kutschbock. Iliana stieß ungelenk mit dem Dolch nach ihm, doch Teshin parierte und entwand ihr das Mordwerkzeug. Ein Schlag, ein Stoß und sie lag unter ihm, Murakamas blaues Leuchten sich im Eisblau ihrer Augen spiegelnd.
Kurz herrschte Stille. Dann flüsterte sie: „Ich bin keine Hexe. Ich habe keinen Pakt mit der Hölle geschlossen.“
„Das weiß ich.“ Teshin behielt die drei Vögel im Auge, die unschlüssig ihre Flügel spreizten. „Aber harmlos bist du auch nicht. Nur warum greifst du mich an? Wie ich sehe, bin ich vielleicht nicht dein einziger Verbündeter hier draußen, aber ich kann dich gegen Medardus‘ Knechte verteidigen. Deine gefiederten Freunde hier offenbar nicht.“
„Du bist wahnsinnig.“, erwiderte Iliana mit glühendem Blick. „So wie du kichert doch kein normaler Mensch!“
„Ich hatte einen anstrengenden Tag, verstanden?“, grollte Teshin. „Ich bin inmitten eines verfluchten Waldes aufgewacht, nur um festzustellen, dass seit meiner letzten Erinnerung mehrere Monate vergangen sind! Da habe ich doch wohl alles Recht, mich aufzuregen, oder?“ Er atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Iliana hatte nicht unrecht. Er musste sich mäßigen und die Kontrolle über sich zurückerlangen.
„Bin ich wirklich der Schwertdämon?“, fragte er leise.
Bevor Iliana etwas erwidern konnte, erfüllte erneut Flügelschlagen die Luft. Teshin gefror das Blut in den Adern. Ein Schwarm der seltsamen Vögel hatte sich um sie herum niedergelassen, eine wahre Armada verglichen mit den dreien, die ihn zuvor angegriffen hatten. Der Wald glich einer schwarzen Wand, vereinzelt von schimmernden Punkten erleuchtet. Einer von ihnen landete neben Teshin auf dem Kutschbock. Der helle Punkt auf seinem Kopf erglühte im schwächer werdenden Sonnenlicht.
„Erlaube mir, diese Frage zu beantworten“, krächzte der Vogel.
Teshin blinzelte ungläubig. Hatte dieses Tier gerade gesprochen?
Als der Vogel nicht fortfuhr, nickte Teshin beklommen. Fiel er nun endgültig dem Wahnsinn anheim?
„Du bist der, den sie in der alten Sprache der Berge Angnaur nennen“, erklärte Ilianas kleiner Verbündeter. „Das bedeutet in etwa Feuergeist. Dabei handelt es sich um eine alte Legende aus Hornheim, entstanden lange bevor sich dort dunkle Mächte regten und die Menschen in die umliegenden Dörfer vertrieben. Demnach bist du angeblich ein böser Dämon, der nach langem Schlaf zurückkehren und sie heimsuchen soll. Sprich, bist du dieser Dämon?“
„Ich weiß nichts von Legenden aus den Bergen!“, erwiderte Teshin entschieden. „Und weder bin ich ein Dämon, noch ein Geist. Nur ein einfacher Söldner, der mühselig sein Brot verdient.“
„Aber ich fühle den Bann der langen Jahre an dir haften!“ Der Vogel schlug mit den Flügeln. „Du hast vieles vergessen, was dir nun dienlich sein könnte.“
„Ihr scheint mir weise für einen Vogel.“ Teshin musterte den Schwarm misstrauisch. Er konnte noch immer kaum fassen, dass er diese Konversation führte. „Wer seid ihr eigentlich?“
„Wir sind die Navali, Diener aus einer alten Zeit. Einst reisten wir an der Seite von Helden und Königen, heute sind wir nur noch ein vergessenes Relikt. Ich bin Halgin, der gefiederte König.“
Teshin starrte ihn überrascht an. „Die Navali? Die siebenhundert Prinzen, die zur Strafe für ihre Anmaßung in Vögel verwandelt wurden? Ich hielt euch nur für eine Legende!“
Halgin stieß einen verächtlichen Laut aus, der am ehesten noch als Schnauben gedeutet werden konnte. „Nicht alles, was du über uns hörst, ist wahr.“ Damit wandte er sich an Iliana. „Junges Kind, ich habe versagt. Ich habe geschworen, dich zu schützen und wurde eidbrüchig, als die Häscher des Inquisitors dich ergriffen und ich machtlos blieb. Nun lastet Schuld gegenüber dem Dämon auf uns. Wir müssen unsere Schuld begleichen und können ihn jetzt nicht töten, mein Kind.“
Iliana nickte ernst. „Schon gut, Halgin. Ich glaube, er wird mir jetzt nichts mehr tun. Und wenn er die Wahrheit sagt, könnten wir ihn vielleicht für unsere Sache gewinnen.“ bei diesen Worten funkelten ihre eisblauen Augen.
Teshin sah von Iliana zu Halgin und wieder zurück. Seine Verwirrung erblühte wie eine stolze Pflanze der Unwissenheit. „Was für eine Sache?
Der helle Punkt auf Halgins Kopf erglühte stärker, als der gefiederte König erneut das Wort ergriff. „Hornheims Zerstörung.“