Korrekturen 03
3.Teil – 17. November 2008, zweiter Versuch
Claus hatte nur gegrinst, als er ihm davon erzählt hatte, dass er neben der nackten Yvonne in seinem Bett wach geworden war.
»Das wird auch Zeit, dass du ‚mal an eine Frau kommst«, hatte er
gesagt, »halte sie dir warm. Ich hatte den Eindruck, dass die Chemie
zwischen euch stimmt, als ihr gestern eng umschlungen aus der Disco
verschwunden wart.«
Thomas war es unangenehm gewesen, zumal er sich noch nicht einmal daran erinnern konnte.
Es hatte Wochen gedauert, bis Yvonne sich wieder gemeldet hatte. In
unregelmäßigen Abständen verabredete sie sich mit ihm und meist landeten
sie später gemeinsam im Bett. In einer Art fühlte sich Thomas wie ein
Lückenbüßer, andererseits hatte er sonst niemanden. Es war eine
beschissene Situation.
Thomas blickte in den Spiegel seines Spindes und fragte sich:
»Brauche ich das eigentlich wirklich?«
Er schlug seinen Spind lautstark zu und drückte das Vorhängeschloss zu. Er löschte das Licht und machte sich auf den Weg.
Draußen war es bereits dämmerig – es war immerhin bereits November.
Thomas blickte sich in beide Richtungen der Straße um. Sie war, wie
immer um diese Zeit, vollkommen verstopft. Es hatte also keinen Zweck,
auf den Bus zu warten. Er war besser bedient, wenn er von vornherein zu
Fuß nach Hause ging. Thomas schlug seinen Kragen hoch, um die Kälte
abzuwehren. Es fing leicht an zu nieseln. Die Stadt wirkte dadurch noch
trostloser, als sonst. Er seufzte und machte sich auf den Weg.
An der nächsten Kreuzung stellte er sich unter einem schmalen Vordach unter und zog sein Handy hervor. Thomas musste noch mit Yvonne Kontakt aufnehmen, wenn er sie heute noch treffen wollte. Er ließ es endlos lange durchläuten, bis eine freundliche Stimme ihm erklärte, dass der Teilnehmer nicht antwortet. Er wiederholte es mehrere Male – jedes Mal mit dem gleichen Erfolg. Yvonne meldete sich nicht. Vermutlich hatte sie wieder einmal etwas Besseres vor. Thomas wusste ja, dass er nur der Notstopfen war, aber es versetzte ihm doch jedes Mal wieder einen Stich.
Er wollte gerade sein Telefon wieder wegstecken, als er den Blick hob und eine Frau bemerkte, die in einem beleuchteten Hauseingang auf der anderen Straßenseite stand und zu ihm hinübersah. Thomas kannte sie nicht. Sie fiel ihm nur deswegen auf, weil sie für die Jahreszeit völlig unpassend gekleidet war, mit sehr kurzem Rock und kurzer Jacke, dazu noch in schreienden Farben. Die Haare waren lang, auf der einen Seite blond, auf der anderen Seite schwarz. Sie war alles in allem eine sehr skurrile Erscheinung. Immer noch schien sie ihn anzublicken, ohne eine Miene zu verziehen. Thomas betrachtete sie etwas genauer. Er hatte noch nie eine Frau gesehen, die sich so zurechtgemacht hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihre Augenpartie in Form eines schwarzen Streifens geschminkt hatte, dabei wirkte sie eigentlich sogar sehr hübsch – wenn dieses verrückte Outfit nicht gewesen wäre. Er fragte sich, was wohl der Grund für ihre Erscheinung wäre. Vielleicht war es eine Prostituierte, die auf Kundschaft wartete. Thomas schüttelte den Kopf, zog seinen Kopf wieder tief in seinen Kragen und machte sich wieder auf den Weg durch das Nieselwetter.
Seine Wohnung befand sich in einer Seitenstraße und lag etwa eine gute halbe Stunde Fußweg von seiner Arbeitsstätte entfernt. Thomas lief relativ schnell, da er keine Lust hatte, sich von dem ungemütlichen Nieselregen vollständig nass regnen zu lassen. Die ganze Zeit über lief er an stehendem und hupendem Verkehr vorbei. Es wurde in der letzten Zeit immer schlimmer. Es lohnte sich im Grunde überhaupt nicht, um diese Zeit mit dem Auto durch die Stadt zu fahren, doch die meisten der Autofahrer schienen das nicht zu begreifen. Ruhiger wurde es erst, nachdem er in seine Straße eingebogen war. Hier war es entschieden dunkler, als auf der Hauptstraße, da hier noch zum Teil alte Gaslaternen standen und den Gehweg nur trübe ausleuchteten. Obwohl man hier nicht schnell fahren durfte, hörte er von hinten ein Auto, welches sich schnell näherte. Thomas blickte sich um und bemerkte dabei, dass es genau in Höhe einer großen Pfütze an ihm vorbeifahren würde. Schnell sprang er in eine dunkle Einfahrt hinein, als eine Fontäne schmutzigen Wassers gegen die Hausfassade klatschte. Er selbst hatte Glück und bekam nichts davon ab.
Er wollte gerade wieder auf den Gehweg zurück, als jemand ihn von hinten ergriff und entschlossen festhielt. Etwas Hartes bohrte sich in seine Seite.
»Was soll das?«, rief Thomas erschreckt. »Wenn Sie Geld wollen – ich habe nicht viel bei mir!«
»Seien Sie still!«, zischte eine Stimme an seinem Ohr. »Ich will keinen Laut hören.«
Unterstützt wurde die Forderung, in dem der harte Gegenstand sich noch stärker in seine Seite bohrte. Thomas hatte keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine Waffe handelte.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Thomas etwas leiser.
»Keinen Laut, habe ich gesagt«, zischte die Stimme wieder. »Wenn Sie leben wollen, seien Sie jetzt ruhig.«
Thomas fühlte einen dicken Kloß in seinem Hals, rührte sich aber nicht mehr. Nach kurzer Zeit sah er eine Frauengestalt an der Einfahrt auftauchen. Es handelte sich ohne Zweifel um die Frau, die ihm bereits auf der Hauptstraße aufgefallen war. Sie blieb kurz stehen uns versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Nach kurzer Zeit ging sie weiter. Die Waffe war noch immer in seiner Seite, also wagte sich Thomas nicht, sich zu rühren. Nach einigen Minuten ließ der Druck nach.
»Ich werde Sie jetzt loslassen«, flüsterte die Stimme an seinem Ohr. »Machen Sie nicht den Fehler, um Hilfe zu rufen, oder mich anzugreifen. Ich habe noch immer eine Waffe. Es wäre Ihr Tod. Haben Sie das verstanden?«
Thomas nickte vorsichtig. Er war unfähig, klar zu denken.
Der Griff lockerte sich und Thomas fuhr herum. Überrascht stellte er fest, dass er von einer jungen Frau überfallen worden war. Wegen der Dunkelheit konnte er sie noch immer nicht genau erkennen, doch hatte sich seine Augen inzwischen schon etwas an die Dunkelheit gewöhnt. Er war sich nicht sicher, aber die Frau hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau, die ihn verfolgt hatte.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Thomas. »Wenn Sie kein Geld wollen, was wollen Sie dann?«
»Ob Sie es nun glauben oder nicht, aber ich bin gerade dabei, Ihren Arsch zu retten. Wir müssen sofort von hier weg. Sie kennen sich sicher gut aus. Sie werden mich führen. Aber denken Sie daran, dass ich Ihre Lebensversicherung bin – versuchen Sie mich also nicht zu täuschen.«
»Wieso muss ich von hier weg?«, wollte Thomas wissen. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Khendrah. Aber das ist im Moment nicht wichtig. Ich werde es später erklären, aber jetzt ist es Zeit, schnell weit von hier weg zu kommen. Also los.«
Khendrah stieß Thomas an, um ihn zu motivieren. Langsam begann er zu begreifen, dass es aus irgendwelchen Gründen um ihn ging und dass es um Leben und Tod ging. Es kam Bewegung in ihn und er deutete auf die Straße.
»Wir müssen bis zur U-Bahn rennen, dann kommen wir weg. Mit dem Bus kommen wir bei diesem Verkehr nicht weit.«
»Was immer eine U-Bahn ist, sehen wir zu, dass wir dort hinkommen.«
Khendrah blickte vorsichtig die Straße in beide Richtungen hinunter, dann fasste sie Thomas an der Hand.
Als sie seinen Blick bemerkte, grinste sie und meinte: »Nur zur Sicherheit. Wir wollen uns ja nicht verlieren, oder?«
Thomas begann zu rennen. Es war ein guter Kilometer bis zur U-Bahn-Station. Khendrah hielt seine Hand mit eisernem Griff und lief leichtfüßig neben ihm her. Als sie die helle Hauptstraße erreichten, sah Thomas, dass Khendrah genau so aussah, wie die Frau, die er im Hauseingang auf der anderen Straßenseite gesehen hatte, nur, dass sie nun nicht mehr diese aufreizende Kleidung trug, sondern eine Art Overall mit vielen Taschen. Der Overall war sehr eng und betonte ihre tolle Figur. Khendrah war eine Schönheit. Was wollte diese Frau nur von ihm?
Völlig außer Atem hielt Thomas an.
»Wir müssen weiter«, drängte Khendrah. »Wie weit ist es noch?«
Keuchend sagte Thomas: »Wir sind bald da. Ich muss nur etwas verschnaufen. Wer verfolgt mich eigentlich? Wenn ich ehrlich bin, habe ich das Gefühl, dass Sie dieser Frau sehr ähnlich sehen.«
»Das wundert mich nicht«, sagte Khendrah., »Denn ich bin es, die Sie verfolgt!«
Thomas zog ihr die Hand weg und starrte sie an.
»Ich verstehe nichts mehr«, sagte er. »Sie verfolgen mich und wollen mich töten. Gleichzeitig wollen Sie mich retten. Überhaupt, was soll der Blödsinn? Da sind doch zwei Personen hinter mir her.«
»Die Khendrah, die Sie töten will, ist eine frühere Version von mir«, sagte sie. »Ich erkläre es Ihnen später – jetzt müssen Sie erst einmal in Sicherheit gebracht werden. »
In einiger Entfernung war die U-Bahn-Station bereits zu sehen. Khendrah konnte sich zwar unter einer U-Bahn nichts vorstellen, aber sie sah das leuchtende ‚U‘ und kombinierte, dass dies ihr Ziel sein musste. Entschlossen griff sie wieder nach Thomas‘ Hand und zog ihn mit sich. Vollkommen verwirrt ließ er es geschehen und stolperte mehr, als er ging, hinter ihr her.
Als sie die Treppe zur U-Bahn hinunter hetzten, sagte Thomas: »Wir brauchen noch Fahrkarten.«
»Was soll das sein?«
»Meine Güte, wo leben Sie denn?«, fragte Thomas. »Ohne Fahrkarte kommen wir nicht durch die Absperrung und können nicht mit der U-Bahn fahren.«
»Dann beschaffen Sie uns solche … Fahrkarten«, forderte Khendrah. »Ich kenne mich und fürchte, dass die frühere Khendrah uns sehr schnell auf den Fersen sein wird, wenn wie unsere Möglichkeiten, unterzutauchen, nicht schleunigst vervielfältigen.«
»Sie haben nicht zufällig Geld bei sich?«, fragte Thomas.
»Was soll ich haben?«
Thomas winkte ab und ging an den nächsten Automaten, wo er zwei Tickets zog. Eines gab er Khendrah, die es interessiert betrachtete. Nun war es Thomas, der Khendrah durch die Sperren manövrierte und dafür sorgte, dass sie Plätze in einem Wagen bekamen. Sie wechselten mehrfach die Bahnen und nahmen dann noch einen Bus, bis Khendrah zufrieden war und meinte, dass sie ihre Spuren nun gut genug verwischt hätten.
»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht«, sagte Thomas. »Aber ich für meinen Teil habe einen ungeheuren Hunger. Da ich davon ausgehe, dass Sie wirklich kein Geld haben, werde ich Sie wohl einladen müssen, wenn ich erfahren möchte, was hier überhaupt gespielt wird.«
»Hunger habe ich allerdings auch«, gab Khendrah zu. »Wo finden wir denn ein – wie sagt man hier?«
»Restaurant?«
»Ja, ich glaube, so hieß es«, sagte Khendrah.
Thomas wies auf ein Lokal.
»Dort werden wir etwas Anständiges bekommen. Für uns beide wird mein Geld noch reichen.«
Er führte sie hinein und sie nahmen an einem der freien Tische Platz. Es kam ihnen entgegen, dass das Lokal noch nicht gut besucht war. Sie konnten sich also ungestört unterhalten. Thomas bestellte Wein und ein Hauptgericht, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.
»So Khendrah, jetzt sind wir ungestört. Jetzt will ich ein paar Erklärungen hören.«
Er blickte sie an und konnte noch immer nicht begreifen, wie ein so hübsches Mädchen ihn so leicht überwältigen konnte. In diesem Moment klingelte Thomas‘ Handy.
»Ich weiß schon – Handy«, sagte Khendrah. »Kommunikator.«
Thomas sah fragend zu ihr hinüber, als er sein Telefon aufklappte und den Ruf annahm.
»Nein, ich kann jetzt nicht«, sagte er, »ich rufe dich später wieder an.«
Er klappte das Telefon zu und steckte es wieder weg.
»Iwonn?«, fragte Khendrah.
»Woher wissen Sie das?«, wunderte sich Thomas, der sich sicher war, dass Khendrah das Display nicht gesehen hatte.
»Ich weiß einiges. Sie haben Sex mit ihr, aber sie ist nicht schwanger.«
Thomas verschluckte sich fast.
»Jetzt reicht es! Ich will Antworten. Also erst einmal: Was ist Khendrah für ein komischer Name? Ist es Ihr Vor- oder Nachname?«
»Was soll diese Frage? Khendrah ist mein Name. So heiße ich. Einen anderen Namen habe ich nicht. Ist es bei Ihnen anders, Thomas Rhoda?«
»Man hat einen Vor- oder Rufnamen. Bei mir ist das Thomas. Dann gibt es noch den Familiennamen, so wie auch andere Mitglieder derselben Familie heißen. Das ist bei mir der Name Rhoda. Sie heißen nur Khendrah?«
Sie nickte und griff nach seinen Händen.
»Wenn wir nun anfangen, persönliche Details auszutauschen, sollten wir vom formellen Sie zum Du übergehen, meinst du nicht?«, schlug Khendrah vor. »Dann fällt es mir leichter.«
»Ich hatte bisher nicht den Eindruck, als wärst du sehr empfindlich«, meinte Thomas.
»Du bist unfair«, warf sie ihm vor, »immerhin habe ich dein Leben gerettet. Du kennst mich nicht.«
»Dann lass‘ mich dich kennenlernen«, sagte Thomas.
Der Wein wurde serviert und Thomas schenkte sich und Khendrah einen Schluck ein. Sie sah interessiert zu.
»Was ist das?«
»Rotwein. Du magst doch einen trockenen Roten?«
»Hm«, machte sie und hob das Glas an ihre Nase. »Ist da etwa Alkohol drin?«
»Natürlich ist in Wein Alkohol. Du kennst keinen Wein?«
»So etwas gibt es bei uns nicht«, sagte Khendrah. »Es ist Gift.«
»Es ist immer eine Frage der Dosierung«, erklärte Thomas. Er fragte sich allmählich, wo diese Frau bisher gelebt hatte, dass sie so weltfremd war. Sie wirkte überhaupt nicht mehr so bedrohlich wie zu Beginn.
Khendrah nippte an dem Wein und machte ein überraschtes Gesicht.
»Wein schmeckt wirklich gut.«
»Zurück zum Thema«, sagte Thomas, »Wer bist du? Wo kommst du her? Was hat das alles mit mir zu tun?«
Khendrah stellte das Glas ab.
»Ich will versuchen, es verständlich auszudrücken. Einiges wird dir unglaubwürdig vorkommen, aber ich kann dir versichern – es ist alles wahr. Ich stamme nicht aus dieser Zeit, in der du lebst. Ich stamme eigentlich aus dem Jahre 3162 – das ist mein Geburtsjahr. Zurzeit bin ich vierundzwanzig Realjahre alt. Es gibt eine Behörde, eine Organisation, die über die Verhältnisse im Zeitfluss wacht. Bemerkt sie eine Unregelmäßigkeit, dann errechnet sie, welche Maßnahme ergriffen werden muss, damit die Unregelmäßigkeit ungeschehen gemacht wird. In der Regel wird versucht, in der Vergangenheit des unerwünschten Ereignisses etwas auszulösen, damit es erst gar nicht geschieht. Es wird dann ein Agent ausgeschickt, die Korrektur durchzuführen. Ein solcher Agent bin ich. Du warst mein Auftrag.«
»Stop!«, rief Thomas dazwischen. »Das ist jetzt etwas starker Tobak. Ich soll dir also glauben, dass du eine Zeitreise unternommen hast aus einer Zeit über tausend Jahre in der Zukunft, um mich hier und heute vor dem Tod zu retten?«
Khendrah druckste herum.
»Ganz so ist es nicht. Richtig ist, dass ich von meiner Basis im Jahre 3500 gestartet bin, um heute einen Auftrag zu erfüllen. Die oberste Behörde ist nicht nur für die ferne Zukunft zuständig, sondern prüft ständig den gesamten Zeitablauf, um Fehler und Unregelmäßigkeiten zu finden. Den Unterlagen zufolge, die ich bekommen habe, sollte ein Nachkomme von dir nach fünf Generationen ein machthungriger Diktator sein, der eine Vielzahl von Menschen tötet.«
»Und deswegen bist du hier, um mich zu retten? Ich glaube, ich verstehe das noch immer nicht.«
»Mein Auftrag war nicht, dich zu retten, Thomas. Mein Auftrag lautete, dich zu töten, um zu verhindern, dass es diesen Diktator gibt. Genau genommen habe ich dich sogar getötet.«
Thomas prustete den Wein, den er gerade getrunken hatte, über den Tisch.
»Bist du nun mein Feind, oder mein Freund?«
»So einfach ist es nicht. Ich war dein Feind, wenn man so will, aber jetzt nicht mehr. Ich habe herausgefunden, dass man mich betrogen hat und es durch deinen Tod erst zu dieser Gewaltdiktatur kommt, die ich verhindern sollte. Ich bin hier, um meinen Fehler wieder zu korrigieren. Du musst leben, Thomas.«
»Also noch einmal zum Mitschreiben: Du hast mich ermordet, aber jetzt findest du das nicht mehr gut und jetzt willst du, dass ich lebe. Was seid Ihr eigentlich für ein perverser Haufen? Ihr maßt euch wirklich an, zu entscheiden, ob jemand leben darf, oder nicht?«
»Was ist daran so unverständlich?«, fragte Khendrah, »Es muss dir doch auch logisch erscheinen, dass es besser ist, einen Menschen zu töten und dadurch Millionen zu retten.«
»Nein!«, ereiferte sich Thomas, »Absolut nicht! Ihr könnt doch nicht in der Zeit zurückwandern, euch einen völlig unschuldigen Menschen wie mich schnappen und ihn für eine Tat zum Tode verurteilen, die irgendein ferner Nachkomme begeht. Das ist krank!«
Thomas sah Khendrah mit blitzenden Augen an. Sie verstand nicht so recht, was daran Unrecht sein sollte und warum es Thomas so sehr aufregte.
»Thomas, aber das Gleichgewicht ist doch trotzdem wieder hergestellt.«
Es verschlug Thomas den Atem. Da saß er mit einer bildschönen Frau beim Essen und sie eröffnete ihm, dass es in Ordnung war, wahllos in der Vergangenheit eines Menschen jemanden umzubringen, um irgendwo in der Zukunft eine positive Reaktion zu erzielen. Er sah das Unverständnis in ihren Augen. Sie war nicht wirklich böse, sie war wohl einfach ein Opfer ihrer Kultur oder Ausbildung. Jedenfalls war er bereit, das zu glauben.
»Sieh, ich habe meinen Fehler doch wieder korrigiert, sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen«, sagte sie, um ihn zu beschwichtigen.
»Dafür bin ich dir auch verdammt dankbar«, sagte er sarkastisch. »Aber es geht doch um die Idee an sich. Nur, weil es möglich ist, darf man doch nicht an der Zeit herumpfuschen. Für mich ist diese oberste Behörde, von der du berichtet hast, die wahre Diktatur. Diese Leute bilden sich ein, entscheiden zu dürfen, was im Zeitablauf geschehen darf und was nicht, oder sehe ich jetzt etwas falsch? Dann sag‘ es mir.«
Thomas sah, wie es hinter Khendrahs Stirn arbeitete. Vermutlich hatte sie ihre Arbeit nie wirklich infrage gestellt. Er ließ ihr einen Moment Zeit. Dann fragte er: »Habe ich nicht Recht, Khendrah? Im Grunde muss jeder von uns befürchten, durch eine Korrektur dieser Behörde einfach ausgelöscht zu werden.«
»So habe ich es noch nie gesehen«, gab sie kleinlaut zu. »Aber sie prüfen sehr gewissenhaft, bevor sie korrigieren.«
Mit einer Handbewegung wischte er ihren schwachen Versuch weg, die Arbeit der Behörde doch noch zu rechtfertigen.
»Quatsch! Es sind Menschen, wie du und ich, die dort über das Schicksal aller Zeiten entscheiden. Diese Leute haben einen Gottkomplex. Wie sieht es überhaupt aus? Hast du durch meine Rettung nicht jetzt gegen eure Gesetze verstoßen? Wie soll es jetzt weiter gehen?«
»Ich … ich weiß es nicht«, sagte Khendrah. »Aber du hast recht. Wenn sie mich jetzt erwischen, werde ich verurteilt. Verdammt, ich kann nie wieder zurück zu meiner Basis.«
Khendrah tat Thomas leid, wie sie so vor ihm saß. Ihr wurde erst jetzt klar, dass sie sich genau wie er vor dieser rätselhaften Behörde verstecken musste.
»Ist dir diese verdammte Basis denn so wichtig?«, fragte Thomas. »Es ist doch nur ein Job, oder etwa nicht?«
»Es ist nicht ganz so einfach, wie du es betrachtest«, sagte Khendrah. »Wir Agenten werden häufig als Kinder oder Jugendliche von Beobachtern der obersten Behörde rekrutiert und müssen unsere Zeit verlassen. Wir werden ausgebildet und dürfen niemals mehr in unsere eigene Zeit zurückkehren. Der Job – wie du es nennst – ist alles, was ich überhaupt habe. Er ist alles, wofür ich jemals gelebt habe.«
Thomas sah sie mitfühlend an. »Mein Gott, was seid ihr nur für arme Menschen!«
»Ich habe es bisher nie so gesehen«, gab Khendrah zu. »Ich war immer stolz auf das, was ich getan habe.«
»Stolz darauf, Menschen zu töten?«, fragte er spöttisch.
»Wir wurden ausgebildet, immer nur das Wohl der Gesamtheit zu sehen«, verteidigte sich Khendrah.
»Siehst du es denn noch immer nicht?«, fragte Thomas. »Ihr legt Richtlinien fest, die besagen, dass einer oder wenige Menschen keine Rechte besitzen, eine große Zahl Menschen jedoch alle Rechte haben. Das ist nach meinem Verständnis einfach unmoralisch.«
Ihr Essen wurde gebracht und unterbrach ihre Diskussion.
Khendrah betrachtete interessiert den Teller, der dampfend vor ihr abgestellt wurde.
»Und was esse ich jetzt hier?«, wollte sie wissen.
»Was soll das schon sein? Ein kleines Rindersteak und eine Folienkartoffel mit Kräuterquark. Ich wünsche einen guten Appetit.«
»Rindersteak?«, fragte Khendrah entsetzt. »Das stammt von einem Tier? Ihr tötet Tiere, um sie zu essen?«
»Das findest du schlimm?«, wunderte sich Thomas amüsiert. »Entschuldige, dass ich lache, aber das ist zu komisch. Du tötest Menschen und das ist in Ordnung, aber ein Tier zu töten, das ist verwerflich?«
»Man kann tierische Eiweiße synthetisch erzeugen«, belehrte ihn Khendrah. »Es besteht keine Veranlassung, aus diesem Grunde Leben auszulöschen.«
Thomas schnitt sich ein Stück Fleisch ab und steckte es sich genussvoll in den Mund, dann sagte er:
»Eine solche Technologie gibt es bei uns noch nicht, und solange es sie nicht gibt, werde ich mir mein Steak nicht nehmen lassen. Du solltest es wenigstens kosten.«
Khendrah aß erst etwas widerwillig, doch musste sie zugeben, dass es entschieden besser schmeckte, als das Essen, das sie in der Basis gewohnt war. Sogar dem Wein sprach sie nach einiger Zeit gut zu, sodass Thomas ihr nachher das Glas wegnehmen musste, weil sie schon einen leichten Schwips hatte. Sie war Alkohol überhaupt nicht gewohnt.
Nach dem Essen überlegte Thomas, was er tun sollte. Khendrah war leicht betrunken und ihm in dieser Frage keine große Hilfe. Nach Hause zurückkehren konnte er sicherlich nicht. Wenn Khendrah ihn dort gefunden hatte, würden es auch andere tun. Und wenn es stimmte, dass man sie getäuscht hatte, dann gab es in dieser Basis, von der sie erzählt hatte, zumindest einen Menschen, der ein Interesse daran haben musste, sie beide zu beseitigen. Er entschied, dass es am besten sein war, für diese Nacht in einer Pension abzusteigen. Am Morgen würde man weitersehen.
Er nahm Khendrah fest in den Arm und überquerte mit ihr die Straße, da er auf der anderen Seite das Schild einer Pension erblickt hatte. Der Zustand seiner Begleiterin hatte sich noch weiter verschlechtert und der Pensionswirt betrachtete sie beide mit missbilligendem Blick, gab ihnen jedoch das Zimmer für diese Nacht.
Thomas bugsierte Khendrah die Treppe hinauf, während sie nur noch dümmlich vor sich ihn kicherte. Im Zimmer legte er sie auf das Bett, wo sie sich gleich zusammenrollte und mit entspanntem Gesicht einschlief. Er überlegte, ob er ihr den Overall ausziehen sollte, doch entschied sich dagegen, weil es ihm nicht richtig vorkam, sie zu entkleiden, während sie hilflos vor ihm lag. Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und betrachtete sie. Khendrah war eine Schönheit. Er musste zugeben, dass er sich irgendwie zu dieser Frau hingezogen fühlte.
»Vergiss es!«, mahnte er sich selbst. »Sie ist eine Killerin. Wer weiß, ob ich nicht noch immer, oder gerade, weil sie bei mit ist, in Gefahr bin. Ich sollte mich aus dem Staub machen, solange es noch geht.«
Er sah sie wieder an. Sie sah aus wie ein Engel, wie sie da lag – die blonde Haarmähne um ein weiches, entspanntes Gesicht. Sie begann am Körper zu zittern – fror offensichtlich. Thomas griff nach der Decke und legte sie ihr über, worauf sie wohlig seufzte.
»Verdammt, ich kann sie nicht so einfach allein lassen. Egal, was sie ist, ich verdanke ihr trotzdem auch, dass ich jetzt noch lebe.«
Er legte sich auf die noch freie Seite des Bettes, blickte noch einmal zur Seite und löschte dann das Licht.
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Die Geschichte macht jetzt eine Woche Pause. Den nächsten Teil gibt es am 2. März 2019