Das Experiment
von Hanne
Mit einem lauten Krachen fällt der Stapel zur Seite. Jesses, wieso müssen ausgerechnet seine Skier ganz hinten stehen? Fluchend wühlt er sich durch den Haufen der umgefallenen Bretter. Wenn es hier oben nur nicht so dunkel wäre. Durch die Dachluke fällt kaum Licht. Aber da sind sie. Im schmalen Lichtstreif dreht er Skier und Stöcke, streicht mit den Händen über das glatte Holz. Alles in Ordnung.
Mit seinen Fundstücken unterm Arm tastet er sich die schmale Bodentreppe wieder nach unten. Er spürt seine Knie bei jedem Schritt. Aber was soll’s. Noch vor einem halben Jahr wäre er nicht mal hoch gekommen, ohne dass ihn die Beine höllisch geschmerzt hätten. Nach der letzten OP kann er wieder richtig gut laufen und sogar Treppen steigen. Er ist nur ein bisschen eingerostet.
Seit einer Woche liegt nun schon Schnee. Schöner Pulverschnee. Der Rainer vom Stammtisch hat gemeint, es gäbe eine Loipe. Seitdem lässt ihn der Gedanke nicht mehr los. Da könnte er auch gleich testen, was so ein künstliches Kniegelenk taugt.
Wann ist er das letzte Mal Ski gefahren? Das ist Jahre her. Lange bevor ihn seine Beine im Stich gelassen hatten. Dabei ist er eigentlich mit Skiern an den Füßen auf die Welt gekommen und hat unzähligen Jungen und Mädels das Skifahren beigebracht.
„Was wolltest du auf dem Dachboden?“ Seine Frau hat ihn schon gesucht. „Dass du mit deinen Knien da oben rum kriechen musst. Sei froh, dass bis jetzt alles so gut gegangen ist!“
„Bin ja heil wieder runter gekommen. Reg dich nicht auf“, sagt er.
Sie schüttelt den Kopf.
Endlich mal wieder den Wachskasten rausholen. Ein Wunder, dass er den so schnell gefunden hat. Bedächtig nimmt er die einzelnen Dosen in die Hand. Für Pulverschnee und diese leichten Minustemperaturen braucht es blau, das steht fest. Das mit dem Abbrennen kann er sich schenken, er will ja kein Rennen gewinnen.
Er wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Seine Frau ist beschäftigt und wird ihn jetzt nicht vermissen. Irgendwo im Keller hat sie seine Skischuhe aufgeräumt. Aber wo?
Natürlich. Da wo er zuletzt nachschaut. Aber immerhin. Sie sind noch da. Schöne Schuhe aus echtem Leder. Mit Fell-Optik. Hatte damals kein anderer.
Nach dem Essen zieht er sich die Jacke über.
„Ich bin mal kurz unterwegs“, ruft er in die Küche. Vielleicht hat sie es nicht so genau gehört.
Hat sie aber. Steht kurz darauf in der Tür.
„Wo willst du hin?“ Schaut. Stutzt. „Was willst du mit den Skiern?“
„Ach, ich will nur mal ein Stück raus. Die Loipe testen.“
„Du? Skifahren? Du bist 86 und die letzte Knieoperation noch nicht lange her. Mensch, Kerle!“
„Ach, Mutter, das verlernt man nicht. Ich will ja bloß geradeaus fahren. Nur auf der Loipe.“
Die Frau schimpft: „Wenn es der Kuh zu wohl ist, geht sie aufs Eis tanzen.“
„Du musst es ja wissen“, sagt er nur.
„Mach, was du willst“, sagt die Frau, „aber komm‘ dann nicht angekrochen.“
Was soll er darauf antworten? Das versteht sie nicht.
Die Bretter über der Schulter und die Stöcke in der Hand – das ist ein gutes Gefühl.
Der Nachbar schaut gerade aus dem Fenster. Ist mit einem Mal verschwunden. Wahrscheinlich holt er seine bessere Hälfte. „Du guck mal, der Rudolph. Mit Skiern unterwegs. Dass der wieder so laufen kann!“
Tja, da haben die beiden heute auch mal was erlebt.
Der Schnee glitzert in der Sonne. Bis auf die Loipe ist die weite weiße Fläche unberührt. Jungfräulich glatt. Bedeckt Wiesen, Felder und Wege. Er atmet die kalte, frische Luft. So schön ist das draußen. Schade, dass die Frau nie Skifahren lernen wollte.
Er hätte sich eine dickere Hose anziehen sollen. Die Knie sind doch etwas kälteempfindlich. Aber gleich wird ihm beim Laufen warm werden.
Nur noch anschnallen. Wenn das Ende vom Schuh nur nicht so weit unten wäre. Da merkt man, dass man über 80 ist. Er reckt die Hände nach unten, doch der Bügel vom Ski ist unerreichbar fern.
Aber hoppla, das ging doch auch anders. Er greift sich einen der Stöcke und drückt damit den Bügel nach unten. Na also.
Die Loipe führt oberhalb des Wanderweges übers Feld. Er ist alleine auf weiter Flur. Die ersten Schritte sind ein bisschen mühsam. Die Ski rutschen immer wieder zurück.
Bald schon findet er in den Rhythmus. Arme und Beine erinnern sich an das Zusammenspiel von Gleiten und Abstoßen. Gelernt ist eben gelernt.
Er folgt der Loipe bis hoch auf den Hügel. Jetzt liegt das Dorf zu seinen Füßen. Ein weißes Märchenland.
Schön ist es hier draußen. Aber auch anstrengend. Es ist wohl nicht klug, noch bis raus zum Waldrand zu fahren. Soviel Anstrengung ist er noch nicht wieder gewohnt. Er beschließt, die Runde abzukürzen. Dazu muss er nur hinter dem Hügel einen kleinen Abhanghinunter fahren und schon ist er auf einem Weg, der ins Dorf zurückführt.
Der Abhang ist steiler als gedacht. Hoffentlich kommt ihm keiner in die Quere. Ein Sturz wäre übel. Aber gleich ist er unten. Nur noch eine kleine Kurve. Geschafft. Der Rest geht geradeaus bis auf den Weg.
Er wundert sich kurz, warum plötzlich von links oben weitere Skispuren zu sehen sind. Begreift gleich darauf. Eine Schanze. Nicht groß, aber zu groß für ihn. Geistesgegenwärtig lässt er sich nach hinten fallen, versucht mit Stöcken und Hintern zu bremsen. Er kann den Flug nicht ganz verhindern und landet heftig auf dem Steißbein.
Junge, tut das weh. Mehrere Atemzüge lang sitzt er ganz still, veratmet den Schmerz. Dann wagt er vorsichtig eine Bestandsaufnahme. Ein Ski hat sich gelöst. Den anderen öffnet er mit Hilfe eines Skistockes.
Er bewegt behutsam die Beine. Die Knie scheinen intakt zu sein. Nur mit dem Sitzen wird er Probleme bekommen.
Immerhin ist er jetzt unten am Weg und in seiner Nähe steht eine Bank. Dorthin rutscht er vorsichtig und zieht sich dann an der Lehne nach oben.
Er schaut sich um. Stimmt, hier an dieser Stelle haben sie früher auch gerne eine Schanze gebaut. Da sag noch einer, dass die Jugend nicht an die frische Luft geht.
Seine Frau hat Kuchen gebacken, während er unterwegs war. „Du kommst gerade richtig“, ruft sie ihm zu, „ich koche gleich Kaffee.“ Mehr sagt sie nicht.
Vorsichtig setzt er sich auf seinen Stuhl. Seine Frau schenkt ihm Kaffee ein.
Er schielt zum Sofa. Der Stuhl ist arg unbequem. Aber die Blöße will er sich nicht geben.
Die Frau steht auf, holt ein Kissen. „Hier! Da sitzt du bequemer.“
Dankbar stopft er sich die Polsterung unter den Hintern.
„Aber mit den Knien gab es keine Probleme“, sagt er, fast ein bisschen trotzig.
„Ich weiß“, antwortet sie und er empfängt ein warmes Lächeln. „Das weiß ich doch.“
Edith Meusburger
Nein, wie schön!
Ich freue mich mit dem mutigen Sportler! Bravo!