Nur eine Minute
»Nur noch eine Minute, Schatz.«
»Eine Minute?« Sie schwieg. Ich wandte mich wieder dem Bildschirm zu und tippte weiter. Nur diese Szene noch, ein letzter Absatz.
»Von wegen eine Minute!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. In mir verschmolz ihr Tritt mit dem Trampeln der Pferde, deren Reiter aufeinanderzuhielten und ging dann im Tosen der Menge unter, als einer der Männer den anderen mit der Lanze nur knapp verfehlte.
Ein flüchtiger Blick auf mein Mädchen zeigte mir ihren Schmollmund und die verschränkten Arme. Die erdachte holde Jungfer, um die beide Ritter kämpften, schrie entsetzt auf, da sie um ihren Favoriten bangte.
»Du hast mich gar nicht lieb!« Der Film auf meiner inneren Leinwand erlosch augenblicklich, ich wirbelte herum und sah sie ernst an.
»Andrea, natürlich hab ich dich lieb.« Ich breitete die Arme aus. Sie sah mich mit einem Stirnrunzeln an. Enttäuscht ließ ich die Arme sinken. »Warum glaubst du, ich hätte Dich nicht lieb?«
Sie funkelte mich an für ein »Mama hat immer Zeit für mich« und blickte dann zu Boden.
Immer. Soso. Ich wartete.
»Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich!«, trumpfte meine Kleine auf.
Der Satz war mir aus dem Mund meiner Exfrau geläufig. Was meiner Tochter allerdings entgangen war, war die Tatsache, dass ich soeben meine Arbeit Arbeit sein gelassen hatte und mir Zeit für mein Kind nahm. Um dies zu verdeutlichen, drückte ich zwei Tasten, um meine Arbeit zu sichern, klappte den Laptop zu und stand auf.
»Andrea«, ich reichte ihr die Hand, »Draußen scheint die Sonne.«
Sie sah mich misstrauisch an und blinzelte.
»Wir könnten einen kleinen Spaziergang durch den Park machen und vielleicht ein Eis essen.«
Bei »Eis« hellte sich ihre Miene auf.
»Als Arbeitsessen sozusagen«, witzelte ich.
Jetzt nahm sie meine Hand.
Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das Abtippen der ohnehin fast fertig erdachten Geschichte war ja nur noch die Drecksarbeit, andererseits auch die einzige Tätigkeit, die mein Produkt und somit jeglichen Arbeitsfortschritt überhaupt fassbar machte. Spazieren gehen und Eis essen und währenddessen die Passanten beobachten, die ich später als Vorbilder für Figuren verwenden konnte, sah genauso wenig nach Arbeit aus wie die drei Stunden, die ich während der Zeit der großen Schreibblockade auf der Toilette verbracht hatte in der Hoffnung auf gute Einfälle. Judith hatte sich sicherlich nicht nur deshalb von mir getrennt, weil ich in meiner Besessenheit unser gemeinsames Kind bei der Nachbarin aufs Klo geschickt hatte.
»Woran denkst du?«
»Das willst du nicht wissen, Kleines.«
»Ich bin nicht klein!«, maulte sie.
»Siehst du, du willst nichtmal hören, was ich sage.« Ich sah sie herausfordernd an, aber da ihr Eis in der Sonne schmolz, war sie vollauf damit beschäftigt und legte zur Abwechslung mal nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage. Dabei war sie besser darin als mein Lektor, der auch noch Geld für seine gezähmte Korinthenkackerei bekam.
»Also gut«, versuchte ich es, »Ich denke nicht an ein rotes Fahrrad.«
»Geht ja gar nicht«, erwiderte sie gelangweilt.
Der Witz hatte aber auch schon einen Bart. In ihrem Alter war sie nicht mehr so leicht zu begeistern.
»Ich denke an die Geschichte, die ich vorhin aufschreiben wollte«, gab ich zu.
»Worum geht’s da?«, fragte sie.
Mir war nicht klar, ob sie nur höflich sein wollte, aber ich fasste kurz zusammen:
»Zwei Ritter sind in die selbe Frau verliebt. Sie aber nur in einen von beiden. Die Männer kämpfen gerade.«
»Und wer gewinnt?«
»Na der, in den sie verliebt ist.«
»Das ist klar, sonst gibt’s ja kein Happy End. Aber wer ist es?«
»Das weiß ich auch noch nicht. Und wenn ich Dir alles verrate, macht es ja keinen Spaß mehr, die Geschichte aufzuschreiben.«
»Heiraten die am Ende?«
»Klar.«
»So wie du und Mama?«
»Nein, anders. Damals gab es ja noch kein Standesamt und da feierte das ganze Dorf zusammen.«
Und Liebesgeschichten enden normalerweise, bevor das Brautpaar sich wieder scheiden lässt.
Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, fragte Andrea:
»Bist du noch traurig?«
Ich fühlte mich ertappt und zögerte. »Ja, manchmal. Und du?«
»Hmm«, nuschelte sie in die letzten Krümel der Waffel.
Plötzlich hatte ich überhaupt keine Lust mehr auf die bevorstehende Veröffentlichung, die anschließende bereits geplante Lesereise und die verdammte Abgabefrist und würde am liebsten fortan und für alle Zeit auf den schnöden Mammon verzichten. Spätestens beim nächsten Saunabesuch wäre ich jedoch wieder zurück auf dem Boden der Tatsachen, da ich mir mit Geld eben nicht nur Eis kaufen konnte, sondern es mich eben auch in die Lage versetzte, das tun zu können, was ich gerne tat. Dass man sich einen Spaziergang mit der eigenen Tochter nicht kaufen konnte, stand auf einem anderen Blatt.
»Müssen wir uns nicht beeilen?«
Ich sah auf die Uhr. »Noch nicht«, erklärte ich. »Deine Mutter kommt Dich erst in zwei Stunden abholen.«
»Papa, wo ist mein grüner Pullover?«
»Meinst du den mit dem Herz drauf oder mit den Bärchis?«
»Papa! Den mit den Bärchis hab ich schon ewig nicht mehr!«
›Ewig‹ war gerade mal ein Dreivierteljahr, aber trotzdem ging der Punkt an Andrea. »Keine Ahnung, Schatz. Bist du sicher, dass Du den grünen dabei hattest?«
»Ja! Den hatte ich am Freitag in der Schule an und die Natalie fand den voll toll.«
Auch die Zeit, während der das Herz aus pinken Pailetten angesagt war, würde ihr Ende finden. Das gehörte zum Lauf der Welt, aber daran, dass meine Tochter nur alle zwei Wochen zu Besuch kam und ich bei meiner Familie nicht mehr zu Hause war, wollte ich mich nicht gewöhnen.
Es klingelte und vor der Tür stand die Frau, die mir eines Tages ihr Wort gegeben hatte, in guten wie in schlechten Zeiten zu mir zu stehen.
»Ich hab ihn!«, rief Andrea. Nun war es also soweit. Meine Tochter stand mit gepackter Tasche neben mir und ihre Mutter, meine ehemals Angetraute, mir gegenüber.
Ich wollte Judith von dem dämlichen Schreibwettbewerb erzählen, der maßgeblich zu unserer Trennung geführt hatte und den ich dann trotz aller Bemühungen natürlich doch nicht gewonnen hatte – aber ich entschied mich dagegen, um den Moment nicht mit den Scherben unserer Ehe zu verderben.
»Judith.« Ich legte ihr die Hand auf die Schulter.
Sie sah mich an.
»Du bist eine gute Mutter.«
Sie lächelte.
Edith Meusburger
Eine besonders nette Geschichte!
Eine schlichte einfache Szene, fast alltäglich, aber gefüllt mit Leben.
Als Leserin kann ich mir sowohl den Vater, als auch das Mädchen lebhaft vorstellen. Ein nettes Gespräch der beiden, ein kleiner Spaziergang – schon sind die Personen und ihre Beziehung und die Schwierigkeiten, die sie miteinander haben, sonnenklar.