Schatten im Wasser
von Nyx
Seit Tagen lasse ich mich in der Badewanne treiben wie eine Wasserleiche. Nicht ununterbrochen, nachts schlafe ich im Bett, bedeckt mit feuchten Handtüchern und klebrigem Schweiß, geplagt von fiebrigen Alpträumen, in denen Richard meinen Kopf unter Wasser drückt. Ich fühle mich aufgedunsen, voll von Wasser und Stimmen, und merkwürdigerweise dennoch wie ein Stück Dörrobst, ein Opfer der unbarmherzigen Hitzewelle, die draußen den Asphalt zum Schmelzen bringt und meine Wohnung wie einen Backofen erhitzt. Der Lärm ist kaum auszuhalten. Die Stimmen waren noch nie so laut wie diesen Sommer. Es ist, als würde die gesamte Menschheit gleichzeitig auf mich einreden. Worte prasseln wie tropischer Regen auf meine zusammengekauerte Form in der Wanne und die meiste Zeit kann ich das Durcheinander nicht einmal verstehen. Nur wenn ich mich anstrenge, kann ich einzelne Worte ausmachen. Pfefferminze, das murmeln sie erst seit gestern, dafür aber immer und immer wieder. Und nach Einbruch der Dämmerung schreien sie seinen Namen wie eine Warnung in die Dunkelheit: Richard. Richard, der Teufel in Menschengestalt. Richard, mein geliebter Richard.
Er hämmert gegen die Wohnungstür und ruft meinen Namen. Ich kann seine Wut durch die Wände und die verschlossenen Türen fühlen. Jeder Faustschlag gegen das Holz grollt wie schmerzhafter Donner durch meinen Kopf. Ich presse die Wange gegen den kühlen Rand der Keramikwanne und bohre die Fingernägel in meine Oberschenkel, bis rote Kratzspuren entstehen. Tief einatmen. Tief ausatmen. »Ich weiß genau, was du der Polizei gesagt hast!«, tobt Richard, und ich sinke tiefer ins Wasser. So wütend habe ich ihn noch nie erlebt. Wird er die Tür aufbrechen? Werde ich spurlos verschwinden, genauso wie seine kleine Tochter? Der Geschmack von Blut klebt an meinen aufgesprungenen Lippen. Die Wandfliesen verschwimmen vor meinen Augen und werden zu einem einzigen, beigen Fleck. Das Hämmern nimmt ein abruptes Ende.
An das Gespräch mit dem Polizeibeamten, der gestern hier war, kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Nicht an alle Einzelheiten, aber an das Wichtigste. Es ist schwer, Fragen zu beantworten, wenn es unerträglich heiß ist und die Gedanken schmelzen wie Butter in der Sonne. Wann ich die kleine Kerstin zum letzten Mal gesehen habe, wollte er wissen, und in seinen Augen war kein Funken Hoffnung, als hätte er schon zu viele vermisste Mädchen tot aufgefunden, um noch an ein glückliches Ende zu glauben.
Seit meiner Trennung von ihrem Vater sehe ich sie selten, manchmal begegne ich den beiden im Stiegenhaus, aber ich höre die Kleine immer, habe ich gemurmelt. Richard setzt Kerstin jeden Nachmittag für ein paar Stunden ins Planschbecken auf die Dachterrasse. Es steht neben dem großen Pflanzkasten mit der Pfefferminze und hat ein aufblasbares Dach, das vor der Sonne schützt, und bunte Fische an den Seiten. Sie weint und schreit immer, wenn sie alleine da oben ist. Ich kann das bis in meine Wohnung hören. Ich bekomme sogar Kopfschmerzen davon.
Da hat das Gesicht des Polizisten härtere Züge angenommen. Er lässt seine zweijährige Tochter unbeaufsichtigt am Dach?
Das Wasser ist flach und sie trägt sogar Schwimmflügel. Sie kann auch nicht vom Dach fallen. Es kann eigentlich nichts passieren …
Die Schultern des Polizisten haben sich trotzdem weiter versteift. Er hat ausgesehen, als wüsste er alles, was er wissen müsste. Da habe ich zum ersten Mal Angst vor Richard bekommen.
Die Zeit vergeht quälend langsam, die Hitze dehnt alles aus. Die Minuten in der Badewanne werden zu Stunden, in denen ich nichts tue. Abends im Bett höre ich Richards unruhige Schritte in der Wohnung über mir. In meinem Kopf überschlagen sich die Stimmen, diskutieren, fangen einen Streit an, der wie Blitze durch meine Schläfen zuckt. Sie reden über Richard, als wäre er ein Monster. Sie reden über mich, als wäre ich in Gefahr. Das Kissen, das ich mir gegen die Ohren drücke, kann das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren wird, nicht ersticken.
Erst kurz nach Mitternacht und ein paar ermutigenden Schlucken Whiskey wage ich es, meine Wohnung zu verlassen. Die Stimmen lassen mir keinen Schlaf. Sie reden wieder von der Pfefferminze und trockener Erde. Die Dachterrasse liegt direkt über Richards Wohnung – ich hoffe, dass er bereits schläft und meine Schritte nicht hören kann. Vorwärts, drängen die Stimmen, vorwärts, die Zeit läuft davon. Nie zurück, sondern immerzu vorwärts. Die Sonne behält kein Geheimnis. Je länger ich zuhöre, desto mehr kann ich verstehen. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das überhaupt will.
Die Nacht bringt keine Abkühlung. Die Luft ist warm und schwül, es weht kein Wind, der die schweißklebrigen Haare von meinen Schläfen lösen könnte. Das Wasser im Plantschbecken liegt in völliger Stille. Einen Moment lang verharre ich und tauche einen Finger hinein. Es ist wärmer als das Wasser in meiner Badewanne. In meinem Kopf taucht ein Bild auf: nasse, dunkelbraune Locken. Die Pfefferminze, schreien die Stimmen. Sieh nach, was er unter der Pfefferminze vergraben hat! Widerwillig richte ich meinen Blick auf den Pflanzkasten. Pfefferminze ist eine Pflanze, die sehr stress- und hitzeresistent ist. Aus ihren Blättern habe ich oft Mojitos für Richard und mich gemacht. Doch selbst die Erinnerung an gemütliche Abende zu dritt, in denen wir fast wie eine Familie waren, kann das ungute Gefühl in meiner Bauchgegend nicht beruhigen. Alles woran ich denken kann, ist der Schatten, der manchmal über Richards Gesicht gehuscht ist, wenn Kerstin nicht aufhören wollte, zu heulen.
Die Pfefferminze sieht mitgenommen aus, als wäre sie herausgerissen und wieder notdürftig zurück in die Erde gedrückt worden. Die Blätter hängen träge herunter, als hätten sie jegliche Hoffnung verloren. Wie der Polizist, der hier war.
Vielleicht ist es nur die Hitze, die der Pflanze zu schaffen macht.
»Iris?« Eine Stimme, tief wie ein See. Licht aus dem Stiegenhaus fällt auf Richard und wirft Schatten auf sein Gesicht. Ich stolpere rückwärts und stoße mit dem Bein an den Pflanzkasten. Ein pochender Schmerz breitet sich in meiner Wade aus. Richard bewegt sich langsam, fast so, als würde er schlafwandeln. »Was tust du hier oben um diese Uhrzeit?« Sein Blick bleibt am Planschbecken hängen. Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Frische Luft … die Hitze setzt mir dieses Jahr zu. Ich sollte wieder nach drinnen gehen.«
»Bleib doch einen Moment, Iris.« Es klingt schwach, aber dennoch wie ein Befehl. Die Stimmen flüstern etwas, doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann kein einziges Wort mehr verstehen.
»Ich habe einen Fehler gemacht …«, sagt Richard. Mein Herz rast, als ich darauf warte, dass er den Satz beendet. Doch das tut er nicht. Stattdessen sieht er vom Planschbecken auf und macht einen Schritt auf mich zu. Panik pulsiert durch meine Adern. Das Stiegenhaus ist nur wenige Meter entfernt. Ich muss nur an Richard vorbei. Richard, der mich in meinen Träumen ertränkt. Er packt mich am Handgelenk, als ich einen Schritt nach vorne mache.
»Ich habe der Polizei nichts gesagt!«, schreie ich und sehe in sein Gesicht, auf die schmalen Lippen und den Drei-Tage-Bart, den ich so gerne geküsst habe, obwohl meine sensible Haut sich danach gerötet hat. Plötzlich ist da keine Liebe mehr zwischen uns.
»Was? Was meinst du damit?»
Mein Handgelenk erzittert unter der hilflosen Wut seiner Finger. Doch in seinen Augen sehe ich nur Verwirrung. Ich blinzele. »Als du heute bei mir geklopft hast- »
»Geklopft? Ich habe nicht geklopft, ich war fast den ganzen Tag auf dem Revier.« Er lässt meine Hand los. Er sieht müde aus. »Iris, was- »
»Was ist passiert? Hast du sie getötet?« Mein Magen krümmt sich, als ich die Worte ausspucke. »War es ein Unfall?«
»Hast du den Verstand verloren?!«
Seine Worte treffen einen wunden Punkt. Ich schlage gegen seine Brust.
»Ich hätte ihre Mutter sein können! Ich hätte aufpassen können, Richard! Wenn du dich nicht von mir getrennt hättest … es wäre nicht so laut gewesen!« Schreien, Weinen, Stimmen. Papa! Papa! Jeden Nachmittag nur »Papa!«. »Du bist Schuld daran, dass es so laut war! Du hast mich nicht ihre Mutter sein lassen! Weißt du eigentlich, wie viel sie geschrien hat? Wie hast du das einfach ignorieren können? So viel Geschrei, Tag und Nacht, hat es sich nicht angefühlt, als würde dein Kopf explodieren?«
Die Knie geben unter mir nach. Ich drehe mich weg, stütze mich am Pflanzkasten ab. Bekomme eine Handvoll Erde zu fassen und schleudere sie beiseite. Noch eine Handvoll. Der Geruch von Pfefferminze und etwas Abscheulichem dringt mir in die Nase. Richard ruft meinen Namen, packt mich an der Schulter. Ich schüttele ihn ab und reiße an der Pfefferminze, schlage mit der Faust gegen den Pflanzkasten, grabe tiefer, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Es wird keine Pfefferminze mehr geben, über die die Stimmen reden können. Egal wie stress- und hitzeresistent diese verdammte Pflanze ist, sie wird nicht mehr zurückkommen. In all der Erde erspähe ich blassblaue Lippen und Augen, leer wie die einer Puppe. Ich reiße nicht mehr an den Wurzeln der Pfefferminze, es sind Haare, in denen meine Finger sich verfangen. Doch in meiner Wut hat es keine Bedeutung. Ich reiße stärker, und dann habe ich ein Büschel stinkender Locken in der Hand, das ich genauso beiseite werfe wie die Pfefferminze. Meine Finger graben sich erneut in die Erde-
Ich werde gestoßen. Der Natursteinboden empfängt mich mit einem dumpfen Schmerz. Wie durch einen Schleier sehe ich Richard, wie er vor dem Pflanzkasten in sich zusammensackt. Seine Schultern zucken, sein Mund bewegt sich auf und zu, aber ich höre nichts. Es ist so still um mich herum, dass ich vor Erleichterung weinen könnte. Ich schließe die Augen. Da sind keine Stimmen mehr. Ganz langsam nimmt die Welt schärfere Umrisse an. Und dann sehe ich mich, wie ich Kerstins Kopf unter Wasser drücke.