Eine Kunst – von Saigel
Jetzt ist das Grab verschlossen. Ich fühle mich so unsäglich leer, bekomme den Moment und mich selbst nicht zu fassen. Meine Beine wiegen schwer, sie drohen unter dem Gewicht zu zerbrechen. Ich kann keinen Schritt gehen. Scheine hier festzusitzen, auf der Erde, in die ich mich regelrecht hineinbohre, weil sie meine Last nicht zu tragen gewillt ist.
Das soll es jetzt gewesen sein: Sie ist tot. Immer und immer wieder gehen sie mir durch den Kopf. Die Worte, die sie mir noch vor einigen Tagen zuflüsterte: „Schau genau hin, dann vergeht es irgendwann“.
Also sehe ich nicht weg. Weder dann, als ich an der Reihe bin, sie in ihrem Sarg zu betrachten, noch dann als ich eine Schaufel Erde in das tiefe Loch werfen muss, in dem sie nun ruhen soll.
Ruhen. In einem gepolsterten Sarg, in einem dunklen Fleckchen Friedhof. Dort soll sie also liegen, die Frau, die ihr Leben lang nicht liegen wollte. Sie, die das Leben lebte, einfach so an einem Wochenende nach Rom fuhr, um einen Kaffee in der Sonne zu trinken. Sie, die als einzige mit im Sandkasten auf dem Spielplatz saß und kräftig schaufelte, während die anderen Mütter kopfschüttelnd an ihren Sojalattemachiatos nippten. Sie, die nicht nur fragte, wie es in der Uni liefe, sondern die wissen wollte, wie diese und jene Vorlesung gewesen sei. Sie, die mich bei meiner Trauung zum Altar führte, weil mein Vater nicht mehr laufen konnte. Sie, die ihren Mann bis zuletzt pflegte, um dann auch selbst nach ein paar Jahren zu gehen. Meine Mutter, die nun in diesem fürchterlichen Sarg liegt und mich scheinbar noch immer über die Kunst des Lebens unterrichtet.
Fest verschließe ich den Anblick des Grabes in meinem Herzen und fange alle Gedanken ein, die wie wild gewordene Geister und letzte Worte um den Grabstein tosen und tanzen, ein wahres Fest veranstalten und mit ihren Ketten rasseln, die sie mir zu gerne um den Hals werfen würden. Ich sammele sie alle ein, verschließe sie in dem Sarg meiner Trauer, sehe noch einmal ganz genau hin und kann mich dann abwenden, die Beine leicht, die Zeit willkommen heißend, die mir noch bleibt, die in Freiheit gelebt werden will.