Plüschblaue Tagträume (5)
Ja, natürlich weicht das Alpaka zurück. Es macht ein paar sanfte Schritte nach hinten und hält inne, sowie ich.
„Na, Schaldek? Was jetzt!?“, fragt es mit Unterton.
„Tja.“
Ich blinzle und erkenne auf der anderen Seite des Abgrunds einen schmalen Streifen Lichtzauber.
„Man sollte schon wissen, ob man da rüber will, oder, Schaldek?“
„Ich sehe was. Aber ich bin nicht sicher.“
„Du willst tatsächlich da hin? Du weißt nicht, was da ist, Bro! Du musst es doch vorher beschreiben können. Sonst landest Du-„
„Wie soll ich es denn sonst herausfinden, Alpakalein?! Ich will endlich sehen, wie das da drüben aussieht. Ich sehe keinen anderen Weg!“
Das Alpaka schnauft. Es nimmt Anlauf und galoppiert auf den Abgrund zu.
„Dir ist klar, dass Du richtig Angst hast? Das ist das andere Ende von inspirierter Federleichtigkeit.“
„Sind wir denn nicht federleicht?“
An das Monster muss ich denken. Das aus dem schlechten Hörspiel. Das kein Gesicht hatte und mich ängstigte. Das Alpaka springt vom Vorsprung ab und gleitet sanft. Irgendeine Kraft zieht uns nach unten. Das Alpaka dreht seinen Kopf zu mir und sein Gesicht ist verschwunden. Es macht Geräusche wie das Monster und beginnt zu wiehern. Dumpf und entstellt. Es scheint nicht glücklich zu sein. Dunkler Nebel wird dunkler und wir tauchen in volle Schwärze ab.
Stillstand. Ich liege hart. Auf einem alten Holzboden. Ich weiß sofort, wo ich bin. Diese dumpfe Stille und das Gefühl aus Angst und fordernder Wut in mir. Ihr wollt wissen, auf wen ich wütend bin, weil es (nein sie) mich ängstigt?
Ich erhebe mich und spüre den Atemzug des Windes, der durch dieses dunkle, leere Haus zieht. Es ist mein schlimmster Albtraum, den ich je geträumt habe. Tatsächlich!
Ich weiß, ich bin hier nicht allein. Spitze Knochen werden mich unsaft stoßen. Die alte, dürre Frau, die in diesem Haus wohnt, hat mich längst im Blick. Ich kann sie nicht sehen, aber sie mich schon.
„Komm doch her!“, rufe ich, so wie damals auch, als ich diesen Traum hatte.
Sie kam.
Und auch jetzt kommt sie. Ein spitzer Stoß in die Seite, ich drehe mich um. Ein Nackenschlag wie von einem Skelett.Ich spüre jeden Fingerknochen. Ich sacke auf die Knie als Zeichen meiner Ergebenheit.
Als Erwachsener tue ich das manchmal. Im Traum.
Als Kind konnte ich mich in Albträumen in eine Ecke stellen und mich zwingen aufzuwachen. Ich hielt die Augen zu und zählte bis drei. Dann wachte ich zwar wieder in Dunkelheit auf, aber ich wusste, dass es mein Bett war, in dem ich lag.
Langsam schleiche ich nun über knarrende Dielen und das leise und näherkommende Zischen der alten Frau macht mir klar, wie amüsiert sie gerade ist. Ich halte mir die Augen zu und zähle bis drei. Ich will hier nicht mehr sein!
Eins, zwei, drei.
Mein Bett, Gott sei Dank!
Habe ich erwähnt, dass in der Kindheit mein schlimmster Albtraum jetzt erst anfing? Und das, weil ich glaubte ich läge –gerade erwacht – in meinem Bett? Ich stieg aus dem Bett aus, nahm meine Taschenlampe und leuchtete mir den weg zum Klo, voller Absicht eine noch vollere Blase zu entleeren. Als ich am Spiegel im Flur vorbei lief: da! Im Flackern die bedeutsamen Umrisse einer alten, hüfthohen Frau mit einer Mähne aus Draht und Armen, die samit ihrer verwachsenen Finger bis fast zum Boden reichten!
Ich war nicht wach! Ich träumte noch, aber bis hierher hatte ich schwören können, ich sei auf dem Weg zu unserem Klo.
Das Zischen der alten Frau – das aus aus der Höhe meines Standspiegels kommt – lässt mich nun diesen Wahnsinn neu erleben. Sie lacht und lacht und ic- noch im Bett sitzend – realisiere neu, was ich schon damals spürte: Im Traum weglaufen und zählen bringt mich zwar von einem fremden Ort zu einem Vertrauten nächsten. Aber: die alte Frau kommt einfach mit! Ich habe Angst. So, wie damals auch! Und das in meinem eigenen Bett!
Als ich wieder die Augen aufreiße, ist es gewiss. So schweißgebadet wie ich bin, umgibt mich nun Wirklichkeit. Ich greife zu meinem Handy. 3: 14 Uhr. Nach einer Weile traue ich mich Licht zu machen. Ich trinke Wasser und realisiere längst: die Fantasie ist eine geile Sache! Sie brachte mich aus meiner Kindheit heraus. Ich stieg nach oben, weil es ging. Ich habe es geliebt!
Und jetzt: alle Konfrontation mit ihr – der Fantasie – zieht mich in den Abgrund. Nach da unten, wo die alte Frau in Dunkelheit wartet, um mich wahrscheinlich zu verspeisen.
Wozu ist das alles gut, wenn es mich so fertig macht? Irgendwas stimmt nicht!, denke ich. Noch an diesem frühen Morgen suche ich ein Bild bei Google. Ich vermisse es! Ich weiß, ohne es kann ich nicht weitermachen mit der Fantasie. Soll es das Wesen sein, auf dem ich reite, wenn ich die Fantasie bewandere.
Ich finde ein Bild, dass diesem Alpaka entspricht, lege mit Photoshop ein Blau darüber, drucke es aus und stecke es in einen Bilderrahmen. Dann setzte ich mich an den Rechner, ändere meinen Avatar und schreibe „Plüschblaue Tagträume“. Da sitzt also der blasse Typ mit dem Kinnbart und intuitiert einen Text nach dem anderen. Aber nicht mehr ohne es! Ich drehe mich zur Seite und sehe das Bild des blauen Alpakas im Bilderrahmen. Es hängt nun über meinem Bett. Da, wo Träume Dich holen können, wenn Du nicht gut aufpasst.
Ich weiß jetzt, es geht nur mit ihm. Meinem Bro!
Ich werde Dich finden, blaues Alpaka!
ENDE