In meinem Traum
Alle Menschen sind gleich viel wert. Jeder bekommt, was er zum Leben braucht. Wir werden geliebt dafür, dass es uns gibt, unabhängig von der Leistung, die wir erbringen. Jeder darf das tun, was er gerne macht und gut kann.
Nachdenklich schaue ich auf die Zeilen, die ich bisher geschrieben habe. Ich schiele auf das Blatt meiner Nachbarin Susa. Sie schreibt von einem Tag, den sie damit verbringt, so viel einzukaufen wie sie möchte. Das ist tatsächlich ein Traum. Ich frage mich, wie das früher wohl war, damals, als man einfach so einkaufen gehen konnte. Wir bekommen alles zugeteilt.
Es ist still im Raum. Alle schreiben eifrig. Herr Magus sitzt an seinem Pult und liest die Zeitung. Er hat das Thema so gestellt, das Abschreiben kaum möglich ist. So erspart er sich das Aufpassen und kann sich seinem Vergnügen widmen. Genau solche Themen mag ich nicht. Manchmal liest er nach dem Korrigieren aus den Aufsätzen vor, den guten sowie den schlechten und es gibt immer viel Gelächter und Getuschel.
Ich streiche alles, was ich bisher geschrieben habe durch.
In meinem Traum. Verflixt. Mir fallen einfach keine Träume ein, die ich aufschreiben könnte, ohne Gefahr zu laufen, ausgelacht zu werden. Wie viel Zeit ist wohl schon vergangen? Die Uhr an der Wand steht schon seit Monaten. Es gibt keine Batterien mehr.
Wir haben für diesen Aufsatz ein ganzes Blatt Papier bekommen. Das Papier ist neu, es können beide Seiten beschrieben werden. Das ist so, weil dieser Aufsatz in die Schülerakte kommt. Die Note, die ich in diesem Aufsatz bekomme, entscheidet mit darüber, ob ich weiter auf die Schule gehen darf oder in ein paar Monaten in der Fischfabrik stehen werde.
Mir wird plötzlich etwas klar. Es ist gar nicht so wichtig, einen guten Aufsatz zu schreiben. Viel wichtiger ist es, die passenden Träume zu haben. Ich träume sicherlich nicht davon, für den Rest meines Lebens Fische zu entgräten, aber ich will auch nicht weiterlernen dürfen, weil ich gut im Lügen bin.
Susa wendet gerade ihr Blatt. Herr Magus steht auf und geht durch die Reihen. Mir wird ganz heiß vor Angst. Doch er schaut nur über unsere Köpfe hinweg. Ob Herr Magus gerne Lehrer ist? Ich glaube nicht. Warum gehen mir gerade jetzt all diese Gedanken durch den Kopf? Wieso kann ich nicht einfach den Aufsatz schreiben?
Will ich lügen? Nein, will ich nicht. Ich will mich aber auch nicht dumm stellen müssen. Gerade beneide ich Susa.
Ich erinnere mich an Fräulein Dierksen, sie war meine Lehrerin in der Grundschule. Sie sagte einmal zu mir, ich wäre etwas ganz Besonderes und ich würde auch einen ganz besonderen Weg gehen. Was hat sie damit gemeint? Dass ich ganz besonders gut Fische verarbeiten würde, im Akkord, zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche?
Meine Entscheidung fällt. Ich muss mir mehr Zeit verschaffen und dazu muss ich lügen.
Nun fliegt meine Hand förmlich übers Papier. Als Herr Magus uns bittet, zum Ende zu kommen, habe ich auch die zweite Seite fast vollgeschrieben.
Mein letzter Satz lautet: In meinem Traum bleibt alles für immer so, wie es gerade ist. Denn unser System ist gut und gerecht. Ich bin sehr stolz ein Teil unserer Gemeinschaft zu sein und freue mich darauf, bald etwas zurückgeben zu dürfen für die Fürsorge, die ich erfahren habe.
InEs
In meinem Traum von Eliane Kraus
Diese Geschichte hat mich sehr beeindruckt.
Der Text, in dem es um einen Schulaufsatz geht ist wunderbar.
Möchte den Schluss der Erzählung zitieren:
‚In meinem Traum bleibt alles für immer so, wie es gerade ist. Denn unser System ist gut und gerecht. Ich bin sehr stolz ein Teil unserer Gemeinschaft zu sein und freue mich darauf, bald etwas zurückgeben zu dürfen für die Fürsorge, die ich erfahren habe. ‚
Mein Traum wäre es, wenn der überwiegende Teil unserer Gesellschaft heutzutage ebenfalls so denken würde.
Die Schreiberin
Super! In dieser Kürze so viel an Inhalt reinzupacken, vor allem die Gedanken der Protagonistin und ihr Weg zu ihrer Entscheidung – aber gut, sie hatte ja auch nicht viel Zeit. Mir gefällt die Klarheit, mit der sie die Entscheidung trifft zu lügen, um weiter zu kommen und ihre eigentlichen Träume leben zu können! Das ist nicht schön, aber es liest sich so, als sei es unter den gegebenen Bedingungen der einzige Weg. Und da es nur Lügen sind, die niemandem schaden, bin ich da voll dabei.