Das braucht der Mensch – von Saigel
Der Mensch braucht Brot,
der Mensch braucht Spiele,
Spiele Brot und Spiele.
Der Mensch braucht Illusion,
der Mensch braucht Zeit.
Zeit, die er in seiner Illusion verschwenden kann und die unwiderruflich verloren, außerhalb des Traumes von anderen ohne sein Einvernehmen benutzt, nie wieder gewonnen, für immer verstrichen ist.
Die Gladiatoren rennen aufeinander zu, sie sind bewaffnet mit scharfen Klingen, sie schreien, rufen in die Menge und sich selbst den letzten Funken Mut aus ihren Körpern. Sie sind getrieben vom Überlebenswillen, der jede Hoffnung, mag sie auch noch so klein und unscheinbar sein, zu einem lodernden Feuer aufkeimen lässt. Sie preschen aufeinander zu, wie das Pferd, das kurze Zeit zuvor, seine treuen Dienste geleistet hat und nun laut röchelnd in der finsteren Ecke der Arena den Tod willkommen heißt, ohne das ein Zuschauer es auch nur eines Blickes würdigt.
Blut kocht im Sand, von Füßen, Hufen und Pfoten in alle Richtungen getragen, vermischt mit dem eines anderen toten Körpers, der sein Ableben klammheimlich bereits vollendet hat.
Der Tod schwebt über den Köpfen aller, facht die Sensationslust an, lässt die Geister erregt in einen Wahn verfallen, nach immer mehr und mehr zu lechzen, auszublenden, was da gerade geschieht, das Spiel in vollen Zügen zu genießen, das nicht das eigene Leben bedroht, sondern lediglich das der anderen.
Der anderen von weniger Wert. Diejenigen, die doch schließlich dazu auserkoren, ausgebildet wurden, gut trainiert, genährt, gehegt und gepflegt auf Kosten des braven Steuerzahlers, die finale Vorstellung so packend und reißend wie möglich zu gestalten und für das bezahlte Geld etwas zu bieten, das man nicht nur in völliger Manie, der alltäglichen Gefühlsbandbreite entfliehend, erleben, sondern auch alles andere voll und ganz vergessen soll: das Leben, das Geschehen, die eigene Frau bis hin zum eigenen Kind.
Sie rasen weiter, die beiden Kämpfer, denen nichts mehr anderes übrig bleibt, als sich gegenseitig abzuschlachten, der Menge Schmerz und Gräueltaten zu bieten, um ihre mittelmäßigen Leben zu erheben, sie bunter, blutiger, gewalt-iger zu machen.
„Ach Schatz, das ist doch nur ein Film“, sagt er, verdreht die Augen bei meinem Gesichtsausdruck, der seinem Freudentaumel so ganz und gar nicht entspricht.
Der Zuschauer in der Arena knabbert an Fleischstückchen auf kleinen Spießen, wirft sie in gespannter Erwartung immer wieder mit den Händen in die Luft. Er speit Bröckchen von bereits halb Zerkautem auf die Frau, die vor ihm ihr Kind auf die Schultern nimmt, das ihm die Sicht im alles entscheidenden Moment versperrt.
Ich sinke in mich zusammen, höre mein Herz schlagen, das Grauen schleicht mir in den Nacken. Neben mir raschelt die Chipstüte, eine Hand voll landet im Mund, eine Hand voll auf dem Schoß, ohne den Blick von dem Bildschirm abzuwenden, streicht er hastig die Krümel herunter, die knirschend auf den Boden fallen.
„Ich mag das nicht sehen“, wimmere ich, traue mich nicht hinzusehen, halte mir die Augen zu.
„Nur noch einen kurzen Moment, das muss ich noch sehen!“.
Zwei Hiebe, ein Kopf fliegt durch die Luft, die Menge schreit, der Gladiator steht da, baut sich auf, brüllt seine Wut hinaus, den Horror, den er gerade mit aller Macht zu bewältigen versucht. Die Begeisterung ist groß, die Zuschauer toben, ein lebloser Körper im Sand.
Blut.
„Wie langweilig. Man hat ja gar nichts gesehen.“
Ich male mir die Albträume aus, die ich heute Nacht haben werde, während er friedlich neben mir schnarcht, als hätten wir an diesem Abend nicht dasselbe gesehen.
Ein anderes Programm.
Versprochen ist versprochen.
Jetzt befinden wir uns im Krieg. Gewehre schießen, Bomben fallen, junge Männer sind Helden, kämpfen für irgendetwas, das ich nicht nachvollziehen kann, sie rennen los. Einer nach dem anderen durch die Bresche. Feuer. Schreie. Giftgas. Schreie.
Das Wohnzimmer ist gefüllt mit Leid und Schmerz und Angst. Neben mir knistert die Chipstüte.
„Ich mag das nicht sehen.“
Ein vorwurfsvoller Blick. Dann ein genervtes Stöhnen. Aber es folgt ein anderes Programm. Schließlich verbringen wir nicht oft einen Abend miteinander, da kann man auch mal einlenken. Gemeinsam sitzen wir schweigend vor dem Fernseher, sehen in das flimmernde Licht, erleben eine Geschichte, sprechen aber nicht darüber, denn sonst:
„Scht. Was hat der jetzt gesagt? Sei doch mal still!“
Ein schöner Abend gemeinsam zu zweit. Brot und Spiele, Spiele und Brot.
Das neue Programm läuft. Keine Schüsse, keine Waffen, ein kleines Kind schreiend im Auto, die Eltern streiten, dann kommt der Baum. Alle sind tot. Der Anfang einer wahren Geschichte. Das Kind leblos, so klein, mir kommen die Tränen.
„Das ist doch nur ein Film, Schatz.“
„Ich mag das nicht sehen.“
Ärgerliche Blicke, schnaubend zieht Luft an meinem Ohr vorbei.
„Na gut, einmal schalte ich noch um, aber dann reicht es mir.“
Das neue Programm, ich stehe auf.
„Ich gehe ins Bett“.
„Ja, schlaf gut, Schatz.“
Stille – endlich habe ich sie wieder.
Ein schöner Abend zu zweit in wunderbarer vollkommener Stille, die die Süße der sanften Stimmen, die Weite der Gespräche, das Lächeln der sich zugewandten Gesichter pur und rein auflodern lässt.
Das braucht der Mensch.
Yann
Tolle Geschichte! Danke dafür 🙂
Edith Meusburger
Sehr schön!
Ein ganz normaler Fernsehabend. Ein richtig gemütlicher Beziehungskiller.
Du hast diese vertraute Zweisamkeit vor der Glotze sehr gut eingefangen.
Man möchte dem Paar eine echte handfeste Herausforderung wünschen.